Geisteswissenschaftliche Forschung ist nicht disruptiv, wie es in den Naturwissenschaften der Fall sein kann. Dennoch ist sie nicht statisch. Im Gegenteil: Es ist ein Qualitätsmerkmal, wenn sich aus der kontinuierlichen Arbeit an bestimmten Quellen und Problemen neue Fragen ergeben. In vielen Fällen ist es gerade die kritische Auseinandersetzung mit der Forschungstradition und den Methoden des eigenen Fachs, die uns zu neuen Quellen führt und uns Dinge sehen lässt, die wir vorher einfach nicht im Blick hatten.
In der Rechtsgeschichte haben wir zum Beispiel lange Zeit vor allem auf Institutionen und wenig auf Akteure geachtet, und seit neue Akteure (oder „epistemische Gemeinschaften“) in den Blick kommen, verändert sich auch das Bild vom Recht und seiner Geschichte. Oder wir haben die Rechtsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit häufig nur als Vorgeschichte der Moderne geschrieben, und nachdem die darin liegenden teleologischen Annahmen deutlich wurden, hat sich unsere Vorstellung der Rechtsgeschichte vor der Moderne verändert. Die Globalgeschichte schließlich hat uns darauf aufmerksam gemacht, welche Gefahren in der Anwendung von europäischen Kategorien und Grundbegriffen liegen: Es wurde deutlich, dass wir nicht einfach unsere Vorstellung von Raum, historischen Epochen, Recht, Staat und relevanten Akteuren auf andere Weltregionen anwenden können, wie wir es lange getan haben.
Von der europäischen Rechtsgeschichte zur Globalrechtsgeschichte
In den Jahren seit 2010, als wir begonnen haben, am Max Planck Institut für europäische Rechtsgeschichte die europäische Rechtsgeschichte aus globaler Perspektive zu beobachten, haben wir uns um diese Öffnung der Rechtsgeschichte für andere Räume und Akteure bemüht. Wir haben eurozentrische Kategorien, Methoden und Grundbegriffe kritisch hinterfragt.
Der Prozess war graduell. Zunächst haben wir Beobachtungsposten außerhalb Europas errichtet und von dort auf die Rechtsgeschichte geblickt. Dabei haben wir die Konzentration der Rechtsgeschichte auf die Geschichte des gelehrten Rechts, das in die Staatlichkeit der Moderne führte und vor allem eine Geschichte des Privatrechts und später des öffentlichen Rechts war, durch den Blick auf andere Felder erweitert. Wir haben Kirchenrecht und Moraltheologie einbezogen und damit die etatistische Ausrichtung zu überwinden versucht. Zugleich haben wir uns bemüht, Methoden zu entwickeln, mit denen eine nicht-diffusionistische Rechtsgeschichte geschrieben werden kann. Das geschah vor allem mithilfe der Konzepte der kulturellen Translation, der Multinormativität, der Glokalisierung – zusammengefasst unter dem Oberbegriff „Globalrechtsgeschichte“.
In unserer Forschung zu Verflechtungen zwischen Europa und anderen Weltregionen haben wir uns zunächst auf Europa und Hispanoamerika konzentriert. Das lag nahe, weil auch Globalgeschichte nur dann gut ist, wenn sie zugleich sehr gute Lokalgeschichte ist. Dazu bedarf es der Kenntnis von Quellen, Sprachen, und nicht zuletzt des Aufbaus einer Forschergemeinschaft. Wir haben das Glück gehabt, dass wir zum Beispiel in größeren Projekten zur Geschichte des Kirchenrechts in Hispanoamerika und den Philippinen, zur Geschichte der römischen Kurie, zur Schule von Salamanca solche neuen Gemeinschaften aufbauen konnten.
Wir betrachten es als Privileg, dass inzwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Kontinenten in unserer Abteilung arbeiten. Ehemalige Doktorandinnen oder PostDoc Researcher haben nach ihrer Zeit in Frankfurt tenured oder tenure track Stellen in Chile, Mexiko, den USA, Italien, Spanien, Deutschland, Österreich, Niederlande, Belgien, China erhalten. In drei Fällen konnten wir Max-Planck-Partnergruppen einrichten und so die Kooperation verstetigen – zunächst eine Partnergruppe in Santiago de Chile, dann in Trient und in den nächsten Monaten in Beijing. Dieses immer dichtere Netzwerk für Kooperationen mit lokalen communities verstärken unsere Gäste, die zum Teil langfristig an Projekten mitgewirkt haben und heute zum Beispiel aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, China, Chile, Italien, Kolumbien, Peru, aus der Schweiz, Spanien oder den USA mit uns arbeiten.
So haben sich im Laufe der Zeit auch die Räume erweitert, in denen wir arbeiten. Aus dem Schwerpunkt zu Hispanoamerika sind die Iberian Worlds geworden, die auch Orte in Afrika und Asien einschließen. Gleichzeitig haben wir auch wichtige Projekte zur Rechtsgeschichte in Deutschland weitergeführt, sei es zum Mittelalter oder zu Sonderrechtsordnungen und Arbeitsrecht im 19. und 20. Jahrhundert. Gerade im Dialog mit diesen sind unsere Vorstellungen einer theoriesensiblen Rechtsgeschichte weiterentwickelt worden, zum Beispiel zu nichtstaatlichem Recht und dessen Quellen.
Historische Normativitätsregime
Mit der Umbenennung des Instituts in „Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie“ und der Benennung der Abteilung II (Duve) als “Historische Normativitätsregime” sind wir einen weiteren Schritt auf diesem Weg gegangen. Wenn wir unsere Forschung als Beobachtung von “Regimen” bezeichnen, so knüpfen wir damit auch an frühere Projekte zu Regulierungsregimen an; wenn wir “Normativität” beobachten, so bauen wir auf unseren Diskussionen über eine Methode für eine Rechtsgeschichte in globaler Perspektive auf. Wir haben das in einer Reihe von blogposts mit den ersten Ergebnissen einer Regime Theory Working Group näher erläutert.
In den letzten Jahren haben wir diese globalrechtshistorische Methode in der Sprache der Wissensgeschichte formuliert: Wir verstehen Rechtsgeschichte als Geschichte der Translation von Normativitätswissen, und wir beobachten solche Translationsprozesse als Regime, also als stabilisierte Arrangements von Normativitätswissen. Wir beschränken uns dabei nicht auf eine Nation oder ein Imperium, sondern errichten Beobachtungsposten an ganz unterschiedlichen Orten der Welt und beschreiben, was wir sehen, mithilfe dieser Sprache. Unsere Hoffnung ist, dass wir auf diese Weise nicht bei der Dekonstruktion eurozentrischer Analysen stehen bleiben, sondern eine kohärente Methode für eine Rechtsgeschichte in globaler Perspektive entwickelt haben und diese nun in konkreten Forschungskontexten erproben und fortbilden (vgl. Duve 2021, deutsch; spanisch Duve 2022).
Ein neues Forschungsprofil
Personelle Veränderungen, der Abschluss einiger Forschungsprojekte insbesondere zur Strafrechtsgeschichte und Historischen Kriminalitätsforschung, die Ausweitung der Forschung auf verschiedene Weltregionen und vor allem die geschilderte Konsolidierung einer Methode für globalrechtshistorische Forschungen machen eine Anpassung des Forschungsprofils nötig und möglich. Diese Anpassung gibt uns die Chance, unsere Aktivitäten erstmals unabhängig von räumlicher Zuordnung (zum Beispiel zu den “Iberian Worlds”), unabhängig auch von europäischen Kategorien (“Strafrechtsgeschichte”) und Periodisierungen (“Mittelalter”) nach Problemen und Fragestellungen zu strukturieren.
Im Forschungsfeld “Normativitätswissen aus der Sphäre des Religiösen” blicken wir auf die Verflochtenheit von dem, was in der westlichen Tradition als „Religion“ und als „Recht“ bezeichnet wird; im Forschungsfeld “Glokalisierung von Normativitätswissen” stehen die Prozesse von Globalisierung und Lokalisierung durch Translation von Normativitätswissen im Mittelpunkt; im Forschungsfeld „Normativitätserzeugungswissen“ geht es um die Mechanismen der Produktion von Normativitätswissen, in den “Sonderordnungen” um die Analyse von Organisationsformen und Ordnungsstrukturen. Im Forschungsfeld “Rechtshistorische Praxis” schließlich denken wir über den Zusammenhang von Medien und rechtshistorischer Forschung nach und entwickeln zugleich neue Form der wissenschaftlichen Arbeit und Kommunikation.
Diese Neuordnung ist eine konsequente Übersetzung unserer Methode in eine Organisationsstruktur. Sie soll zum Gespräch anregen, gemeinsame Perspektiven eröffnen, als Treffraum für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Regionen und Traditionen dienen. Sie soll helfen, die eigenen Forschungsergebnisse nicht nur als Teil des meist um bestimmte Orte, Perioden und Themen strukturierten Forschungsstandes zu sehen (zum Beispiel als Beitrag zur Forschung zur Schule von Salamanca, zur Geschichte des Kirchenrechts, zur Arbeitsrechtsgeschichte, zur Rechtsgeschichte Lateinamerikas etc.), sondern über die eigene Forschung im Licht der gemeinsamen Methode nachzudenken. Das dürfte innovatives Potential für jedes Projekt bieten und zugleich unserem gemeinsamen Projekt dienen, nämlich eine “Rechtsgeschichte jenseits der Moderne” zu schreiben.
Zitierte Literatur und weiterführende Hinweise
Duve, Thomas, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: Rechtsgeschichte – Legal History 20 (2012) pp. 18-71, http://dx.doi.org/10.12946/rg20/018-071
(Spanish: Los desafíos de la historia jurídica europea, in: Anuario de Historia del Derecho Español 85 (2016) pp. 811-845, https://www.boe.es/biblioteca_juridica/anuarios_derecho/abrir_pdf.php?id=ANU-H-2016-10081100845)
Duve, Thomas, Global Legal History. Setting Europe in Perspective, in: Pihlajamäki, Heikki/Dubber, Markus/Godfrey, Mark (eds.), The Oxford Handbook of European Legal History, Oxford: OUP 2018, pp. 115-139, https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780198785521.013.5.
Duve, Thomas, What is global legal history?, in: Comparative Legal History 2020/2, 73-115, https://doi.org/10.1080/2049677X.2020.1830488
Duve, Thomas, Rechtsgeschichte als Geschichte von Normativitätswissen?, in: Rechtsgeschichte – Legal History Rg 29 (2021), pp. 41-68, http://dx.doi.org/10.12946/rg29/041-068
(Spanish: Historia del derecho como historia del saber normativo, in: Revista de Historia del Derecho 63 (2022), pp. 1-60, online: http://www.scielo.org.ar/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S1853-17842022000100001)
Duve, Thomas, Legal History as an Observation of Historical Regimes of Normativity, in: Max Planck Institute for Legal History and Legal Theory Research Paper Series No. 2022-17, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4229345
Duve, Thomas, Legal History as a History of the Translation of Knowledge of Normativity, in: Max Planck Institute for Legal History and Legal Theory Research Paper Series No. 2022-16, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4229323
Cite as: Duve, Thomas: Warum ein neues Forschungsprofil für die Abteilung “Historische Normativitätsregime”?, legalhistoryinsights.com, 05.12.2023, https://doi.org/10.17176/20231206-173912-0