Ein Zwischenbericht
Das Projekt
Wie entstand Recht in der Moderne außerhalb der großen Kodifikationen, ja außerhalb des staatlichen Rechts? Welche Sonderordnungen wurden dadurch neben dem „allgemeinen“ Recht geschaffen? Dass die Wirtschaft ihr eigenes Recht hervorbringt – z. B. durch AGBs, Kartellverträge, Tarifverträge, technische Normierung etc. –, ist schon seit langem bekannt. Wir wissen also von der Existenz dieses nichtstaatlichen Rechts – aber wir wissen nur sehr wenig von seinen Inhalten, und damit auch kaum etwas darüber, welche Effekte von ihm ausgingen: In welchem Ausmaß hat es die Wirtschafts- und Arbeitswelt determiniert, wirkte bremsend oder innovativ? Wie gestaltete sich sein Verhältnis zum staatlichen Recht? Ergänzte es das Gesetzesrecht oder überspielte es dessen Regelungsaussagen? Welche Geltungsreichweiten entwickelte es? Welches rechtstechnische Niveau brachte es hervor?
Derartige Fragen stellen sich vor allem im Arbeitsrecht. Das Arbeitsrecht ist im Hinblick auf die Problematik nichtstaatlichen Rechts ein Referenzfeld par excellence – vor allem weil sich der Gesetzgeber lange Zeit aus der Regulierung wichtiger Fragen heraushielt. Auch wenn es etliche Regelungen z. B. im preußischen Allgemeinen Landrecht, in der Gewerbeordnung und im BGB gab – was im Arbeitsverhältnis galt, war über lange Zeit ganz überwiegend in Arbeitsordnungen und dann zunehmend in Tarifverträgen geregelt. Hinzu kommen weitere Arten von Regelwerken, in denen die sozialpolitischen Aspekte des Arbeitsverhältnisses und Fragen des kollektiven Arbeitsrechts geregelt wurden, so z.B. Statuten von Betriebskrankenkassen, Arbeitsschutzbestimmungen, Verhaltensanweisungen für Betriebsräte, Streikversicherungsreglements, Statuten von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden etc.
Im Projekt “Nichtstaatliches Recht der Wissenschaft. Die normative Ordnung der Arbeitsbeziehungen in der Metallindustrie vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik” soll diese arbeitsrechtliche Normenvielfalt erschlossen und einer digitalen Edition präsentiert werden. Dabei konzentriert sich die Suche auf jenen industriellen Sektor, der in Deutschland lange Zeit eine Leitfunktion innehatte: die Metallindustrie. Der Untersuchungszeitraum umfasst die zweite Hälfte des 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die untersuchten Regionen sind Sachsen, Berlin und einzelne regionale Schwerpunkte im westfälischen Industriegebiet und in Süddeutschland.
Das Projekt begann Ende 2019 und hat eine Laufzeit von fünf Jahren. Es wird gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, dem Verband der Metall- und Elektroindustrie NRW e.V. und dem Institut der deutschen Wirtschaft, IW Medien, Köln.
Die Projektgruppe
Forschung und Recherche
Unter der Leitung von Peter Collin arbeiten drei Wissenschaftler im Projekt. Sie bereisen die Archive, sichten die Quellen und fertigen Kopien als Vorlagen für die Digitalisierung an. Eng damit verbunden sind ihre eigenen Projekte: Johanna Wolf arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Geschichte der Arbeitsordnungen, Matthias Ebbertz untersucht für sein Dissertationsvorhaben die normativen Strukturen der innerbetrieblichen Machtgefüge und Tim-Niklas Vesper arbeitet an einer Dissertation zur Geschichte der betrieblichen Wohlfahrt.
Digital Humanities – Konzeptplanung, Koordination und TEI-XML-Formatierung
Unterstützt wird das Projekt von Institutsmitarbeitern aus dem Bereich der Digital Humanities. Andreas Wagner konzipiert und modelliert die digitale Projektarchitektur, Polina Solonets verantwortet die Überführung des Quellenmaterials in das TEI XML-Format (siehe unten).
Digital Humanities – OCR-Verfahren und andere unterstützende Tätigkeiten
Dem Projekt zu Seite stehen weiterhin drei studentische Hilfskräfte: Lisa Michel, Ben Gödde und Annika Walther. Sie sorgen in erster Linie für die Überführung der Quellen, die zunächst nur als Bilder zur Verfügung stehen, in Textdateien (OCR-Verfahren, siehe unten).
Die Quellen
Für die Untersuchung der oben skizzierten Forschungsfragen steht eine Unmenge an Quellen zur Verfügung. Nur um dies beispielhaft zu verdeutlichen – ab 1892 war jeder Betrieb mit über 20 Arbeitern verpflichtet, eine Arbeitsordnung zu erlassen. Diese Datenmenge erlaubt die Schaffung eines digital aufbereiteten Quellenkorpus, das das nichtstaatliche Recht der Metallindustrie in seiner ganzen Vielgestaltigkeit und Verbundenheit sichtbar macht.
Allerdings sind diese Quellen auf einer Vielzahl von Trägern (staatliche Akten, Unternehmensakten, Separatdrucke, Abdrucke in Zeitungen) überliefert und auf viele lokale und zentrale öffentliche Archive, private Archive und Bibliotheken verteilt. Das macht die Quellenlage unübersichtlich und die Recherche und Erschließung aufwändig. Bisher wurden in folgenden Archiven und Bibliotheken Quellen erhoben:
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München |
Bayerisches Wirtschaftsarchiv München |
Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung |
Bundesarchiv |
Hoesch-Archiv Thyssenkrupp Konzernarchiv |
Landesarchiv Berlin Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln |
Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz |
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig |
Staatsarchiv Münster |
Staatsbibliothek Berlin |
Stadtarchiv Chemnitz Stadtarchiv Ingolstadt |
Stadtarchiv Leipzig |
Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg Stuttgart |
Die Digitalisierung der Quellen I
Die Quellen werden in einem aufwändigen Verfahren digitalisiert. Zwei wesentliche Verfahrensteile sind dabei das OCR-Verfahren und das TEI XML-Format. OCR (Optical Character Recognition) ist ein Verfahren, bei dem durch einen Algorithmus Textdaten aus Bildern extrahiert werden. Mit anderen Worten: OCR „liest“ die Abbildungen und wandelt sie in maschinenlesbaren Text um, der dann digital weiterverarbeitet werden kann, wie untenstehendes Beispiel zeigt.
Die Digitalisierung der Quellen II
Mit dem TEI XML-Format werden die Texte in eine verknüpfbare Struktur gebracht. TEI XML ist ein Standarddateiformat zur Erfassung von Texten, das auch eine problemlose Nach-/Weiternutzung der Projektdaten durch andere Forschende sowie langfristige Zugänglichkeit von Projektdaten gewährleistet. Daher hat sich dieses Format in Editionsprojekten durchgesetzt und wird auch von der DFG als verpflichtend angesehen. Die Verwendung des TEI XML-Formats in unserem Projekt hat zwei wichtige Aspekte. An erster Stelle wird dieses Format für die Kodierung der Textstruktur benutzt: Der OCR-Prozess kann bestenfalls den buchstäblichen Wortlaut der Texte erfassen, nicht jedoch die Gliederung in Abschnitte und Paragraphen verschiedener Text-Hierarchieebenen. Diese strukturelle Annotation von Texten wird manuell durchgeführt und ist mit großem Zeitaufwand verbunden.
Insbesondere macht TEI XML die Annotation einzelner Textteile mit Hilfe bestimmter Schlagwörter (z. B. „fristlose Kündigung“) möglich. Hierzu werden im Projektteam einzelne, auf bestimmte Quellengattungen zugeschnittene Schlagworte ausgewählt bzw. Schlagwortbäume gebildet. Im Wege der Verknüpfung sowohl einzelner Regelwerke wie auch einzelner Regelungen können dann z. B. Erkenntnisse gewonnen werden über:
- zeitliche Abfolgen und Intensitäten von Normsetzung (auch in Bezug auf bestimmte Regelungsinhalte),
- Sichtbarmachung besonders „regelungsstarker“ oder „innovativer“ Verbände und Teilbranchen,
- Regelungsschwerpunkte, Repräsentativität einzelner Regelungsaussagen,
- Wege der Verbreitung bestimmter Regelungsmodelle oder Normaussagen (Wissens- und Normtransfer),
- mögliche regionale oder sektorielle Typenbildungen oder sonstige Besonderheiten,
- das Verhältnis zum staatlichen Recht.
Diese wissenschaftlichen Annotationen sollten ursprünglich manuell vorgenommen werden. Dabei hätten alle Quellen detailliert von den wissenschaftlichen Mitarbeitenden durchgearbeitet und in allen relevanten Hinsichten entsprechend angereichert werden müssen. Da dies einen äußerst großen Zeitaufwand bedeutet hätte, wurde eine Anwendung programmiert, die unter anderem die automatische Annotation aller Quellen mit beliebigen Schlagworten ermöglicht. Dadurch kann die Zahl der verwendeten Schlagworte deutlich erhöht werden. In einer experimentellen Frageperspektive hat sich erwiesen, dass eine (ggf. anschließende und auf die automatische Annotation aufbauende) manuelle Annotation maximal mit einer sehr selektiven thematischen Auswahl von Klassifikationsbegriffen geleistet werden kann.
Die Digitalisierung der Quellen III
Da die Quelldaten schließlich mitsamt der Annotationen im standardisierten TEI XML-Format vorliegen, können sie ohne wesentlichen Software-Entwicklungsaufwand der Fachwissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit unter Benutzung freier Software auf einer Internet-Plattform im Open Access zugänglich gemacht werden.
Überwiegend werden Arbeitsordnungen und Tarifverträge präsentiert, daneben vor allem Statuten und andere Regelwerke von Arbeitervereinen bzw. Gewerkschaften, Satzungen von betrieblichen Renten- und Krankenkassen sowie Arbeitsverträge (entweder als für den Einzelfall erstellte Verträge oder als Normal- bzw. Musterarbeitsverträge). Hinzu kommen (in der Aufstellung unter „Sonstiges“) vor allem Regelwerke von Arbeitgebervereinigungen, Lehrlingsverträge, Mustermietverträge für Werkswohnungen, Statuten von Berufsgenossenschaften, Ausbildungsreglements, Einstellungs- und Entlassungsrichtlinien und Regelwerke für weitere betriebliche Wohlfahrtseinrichtungen. Die Verteilung stellt sich nach dem gegenwärtigen Stand der Quellenerschließung wie folgt dar:
Im Ergebnis entsteht eine Datenbank, die folgende Vorteile aufweist:
- einfache, unbeschränkte, kostenlose und standortunabhängige Verfügbarmachung eines großen Quellenfundus für die Fachwissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit
- vielfache Funktionalität: Filteroptionen, die Entwicklungslinien sichtbar und Vergleiche möglich machen; Volltextsuche bzw. je nach Umsetzung auch Annotationen, die schnellen Zugriff auf Einzelaspekte im Quellenmaterial ermöglichen; Anzeigemöglichkeiten, die auch Personen mit Interesse an einzelnen Betrieben/Organisationen oder einzelnen Aspekten der Arbeitsbeziehungen ein Stück weit Sucharbeit abnehmen
- eine nachhaltige Datenbankstruktur, die auch in Zukunft Platz für Erweiterungen lässt (Quellenarten, Betriebe/Organisationen, Regionen, Ausweitung von Annotationen)
Projektfortschritt und Projektaufwand
Bisher sind insgesamt 514 Quellen erfasst (Stand 24.9.2022). Diese befinden sich in einem unterschiedlichen Bearbeitungsstand:
Die technische Bearbeitung der Quellen – d. h. diejenige Arbeit, die auf die Recherche und bildliche Erfassung folgt – erfordert mehrere Arbeitsschritte: In der Datenvorbereitung werden die in den Archiven erstellten Bilder entzerrt und für die OCR-Bearbeitung vorbereitet. Im Anschluss daran müssen die vom OCR-Programm erkannten Texte korrigiert und editiert werden. Die auf TEI Publisher hochgeladenen Texte durchlaufen dann noch einmal ein Korrekturverfahren und werden anschließend – wie oben beschrieben – (bisher) händisch annotiert. Der prozentuale Arbeitsaufwand verteilt sich dabei wie folgt:
Vereinfachte Darstellung des durchschnittlichen Zeitaufwandes für die technische Bearbeitung
Durchschnittliche Seitenzahl einer Quelle: 13,6
Durchschnittliche Zeichenzahl einer Quelle: 23.600
Durchschnittliche Normseiten (1.500 Zeichen lt. VG Wort) einer Quelle: 15,7
Durchschnittlicher Zeitaufwand für die gesamte technische Bearbeitung einer Quelle (Datenvorbereitung, OCR-Bearbeitung, TEI Annotationen und Korrekturen) (geschätzt) 3 h.
Perspektiven
Mit dem Editionsprojekt und dem ihn begleitenden Einzelprojekten wird der Versuch einer integrierten Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte unternommen. Die Rechtsgeschichte löst sich von ihrer traditionellen gesetzeszentrierten Fixierung und öffnet sich jenen Normen, die bislang als „Nichtrecht“ eingestuft und ignoriert oder jedenfalls vernachlässigt wurden. Der Blick nicht nur auf das einzelne Regelwerk, sondern auf eine Vielzahl von Regelwerken gleicher Art (z. B. Arbeitsordnungen) erlaubt es, generalisierende Bewertungen vornehmen zu können und somit die normative Ordnung der Arbeitswelt nicht nur in Bezug auf ein einzelnes Unternehmen zu rekonstruieren. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte wiederum integriert dieses nichtstaatliche Recht als Teil des Handelns ökonomischer und politischer Akteure in ihrer Sichtweise auf die gesellschaftliche Praxis. Durch Einzelstudien kann herausgearbeitet werden, wie Regeln entstanden, durchgesetzt und vermittelt wurden und wie sich dies in wirtschaftliche und sozialpolitische Auseinandersetzungen nicht nur einbettete, sondern diese sogar determinierte oder beeinflusste. Mit konzeptionellen Ansätzen einer Rechtsgeschichte als Normativitätsgeschichte lässt sich das Projekt gleich in mehrfacher Hinsicht verbinden. Erstens wird Multinormativität veranschaulicht, also die Koexistenz von und die Interaktion zwischen rechtlicher (gesetzesförmiger) und (im engen Sinne) nichtrechtlicher Normativität. Zweitens wird eine historische Perspektive auf Recht und Diversität eröffnet: Es handelt sich darum, dass innerhalb einer Rechtsordnung, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der Gleichheit ausging und auf Universalität ihrer Geltungsansprüche zielte, eine gruppenbezogene Sonderordnung geschaffen wurde. Und drittens lässt sich die Ordnung der Arbeitswelt als Historisches Normativitätsregime beschreiben, also als stabilisierte Arrangements von Diskursen, Praktiken, Normen und Prinzipien und deren kontingenten Bedingungen in Bezug auf ein bestimmtes Handlungsfeld. Für die Beobachtung dieser Arrangements in der Arbeit bedarf es gleichermaßen rechts- wie auch wirtschafts- und sozialhistorischer Expertise.
Für wichtige sachliche Hinweise und Formulierungsvorschläge bei der Erstellung des Beitrags danke ich Matthias Ebbertz, Lisa Marie Michel, Polina Solonets, Benjamin Spendrin, Tim-Niklas Vesper, Andreas Wagner und Johanna Wolf.
Cite as: Collin, Peter: Nichtstaatliches Recht der Wirtschaft – eine Quellensammlung, legalhistoryinsights.com, 03.03.2023, https://doi.org/10.17176/20230508-191956-0