„Wir werden interviewed, aber andere schreiben.“ Plurinationale Geschichten für einen plurinationalen Staat?

Seit 2017 wird unter Koordination des Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia (ABNB) in Sucre das Projekt Memoria Oral Boliviana durchgeführt. Man möchte Zeugnisse der Angehörigen der Naciones y Pueblos Indigena Originario Campesinos Boliviens über ihre Geschichte, ihre kulturellen Traditionen und Praktiken sammeln. Das ist auch für die Rechtsgeschichte interessant, werden auf diese Weise doch Quellen für eine andere als die traditionelle, auf den Nationalstaat und seine Institutionen gerichtete Historiographie gesammelt. Wegen der weitreichenden Autonomie, die den Angehörigen der Naciones y Pueblos Indígena Originario Campesinos in der Verfassung Boliviens aus dem Jahr 2009 eingeräumt wird, hat die Suche nach den eigenen Traditionen aber auch unmittelbare praktische Bedeutung. Denn die Autonomie erstreckt sich grundsätzlich auf alle Angelegenheiten, die – so Art. 10 Abs. 1 des Jurisdiktionsabgrenzungsgesetzes von 2010 – in der Vergangenheit und in der Tradition nach den eigenen Normen, Verfahren und mit Hilfe ihres eigenen Wissens entschieden wurden. Doch woher kennt man diese Vergangenheit und Tradition, woher die Normen, Verfahren und das relevante Wissen? Und wie geht man mit epistemischer Diversität um, wenn sich daran handfeste Folgen knüpfen?

Memoria Oral Boliviana

Der erste Weg für eine Antwort auf die Frage nach Normen und Praktiken der Vergangenheit führt naturgemäß ins Archiv. Tatsächlich findet man im ABNB auch eine Fülle von Dokumenten, mit denen man die Geschichte indigener Völker erforschen kann. Das vollständige Archiv der Real Audiencia de la Plata (1561-1825), also der höchsten Verwaltungs- und Rechtsprechungsinstanz in der Region, zum Beispiel, ist ein Schatz, der nicht umsonst von der UNESCO in die Liste des „Weltdokumentenerbe“ aufgenommen wurde. Doch sind die meisten der im ABNB aufbewahrten Texte durch mehrere koloniale oder auch national-etatistische Filter gegangen, und sie entstammen einem pragmatischen Kontext, etwa einem Rechtsstreit. Man muss solche Quellen also gegen den Strich lesen, und man wird letztlich nur einen begrenzten Einblick in die Normen und Traditionen indigener Gemeinschaften bekommen.

Für ein Nationalarchiv in einem plurinationalen Staat liegt es deswegen nahe, die eigenen Bestände durch Archive der indigenen Gemeinschaften zu ergänzen – und dabei auch auf oral history zu setzen. Auf diese Weise sind im Rahmen des Projekts Memoria Oral Boliviana in den letzten Jahren umfangreiche Materialien gesammelt und Geschichten indigener Gemeinschaften geschrieben worden. Einige Ergebnisse sind in dem vom ABNB herausgegebenen Anuario Estudios Bolivianos Archivisticos y Bibliográficos publiziert. Sie reichen von einer Darstellung der Geschichte, Kultur und Identität der Nación Originaria Yampara (Anuario 24/2017) über Transkriptionen von umfangreichen Tonbandaufnahmen der Guaraní (Anuario 25/2018) bis zu einer Monographie zu Geschichte, politischer und sozialer Organisation, Kultur, Wirtschaft sowie Gesundheit und Erziehung der Qaqachaca (Anuario 28/2021).

Diese Materialien ergänzen Quellen, die von Familien oder Gemeinschaften gesammelt und dem Archiv zur Aufbewahrung angeboten werden. Um was für Archive es sich dabei handeln kann, haben Paola Revilla und Pablo Quisbert in einem blogpost für legalhistoryinsights.com vor einigen Monaten anschaulich beschrieben. Dass man auf der Grundlage eines solchen privaten Archivs geradezu eine alternative Geschichte – auch eine andere Rechtsgeschichte – Boliviens schreiben könnte, zeigen Tristan Platt und Gonzalo Molina Echeverría in ihrem 2018 in La Paz publizierten Buch Defendiendo el Techo Fiscal. Sie konnten dabei freilich auf über 50jähriger anthropologischer Forschung von Tristan Platt aufbauen, der Zugang zu dem außergewöhnlich vielfältigen Material bekam.

„Unsere eigene Sicht auf die Geschichte“

Die Besonderheit des Projekts Memoria Oral Boliviana besteht nun darin, dass es vom ABNB koordiniert, aber von Vertretern der indigenen Völker selbst, zum Teil mit Hilfe von Institutionen wie dem ABNB oder der Casa de la Libertad  in Sucre, durchgeführt wird. Dabei hat man auch einen Lernprozess durchgemacht. Während die Monographie „Yampara Suyu: territorio, historia, identidad“ unter Beteiligung von Vertretern der Nación Originaria Yampara zusammen mit dem ABNB geschrieben worden ist, ist die über 200seitige „Historia e identidad de Qaqachaca“ ausschließlich von der Gemeinschaft selbst verfasst, diskutiert und gemeinschaftlich verabschiedet worden; auch linguistische Besonderheiten des Textes hat man für die Veröffentlichung nicht korrigiert.

Die Historia e identidad de Qaqachaca ist auch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Sie hat nicht bloß einen Autor, sondern viele. Denn sie ist das Ergebnis einer intensiven gemeinschaftlichen Reflexion über die eigene Sicht auf die Geschichte und Kultur, die der Gemeinschaft selbst „gehöre“ – „sobre nuestra propia visión de la historia y la cultura que nos pertenece“, wie einleitend hervorgehoben wird. Nicht nur diese Formulierung, auch der Titel des Buchs macht deutlich, wie eng Geschichte und Identität miteinander verbunden sind. Das macht das Projekt und die eigene Autorschaft so wichtig. Früher sei man Objekt der Beschreibung gewesen, man sei interviewed worden, und dann hätten andere geschrieben, mit eigenen Zielen und Schwerpunktsetzungen: „Nos entrevistan, pero otros escriben“, hob Juan Maraza Mamani vom Ayllu Arriba, Mitglied des Comité de Historiadores de Marka Qaqachaca, während eines Treffens einiger Vertreter der indigenen Gemeinschaften im ABNB in Sucre im September 2023 hervor. Sie wollen selbst Autoren ihrer eigenen Geschichte sein, sie tun dies als Gemeinschaft, und sie wollen ihre eigenen Werte zum Ausdruck bringen.

Mitglieder des Projekts Memoria Oral Boliviana bei einem Treffen im Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia, Sucre, September 2023. In der Mitte der Direktor des ABNB, Máximo Pacheco Balanza, © Thomas Duve

Sie sind nicht die einzigen. Auch die Vertreter des Territorio Indígena Originaria Marka Payaqullu San Lucas, in dem ca. 30.000 Personen leben, haben begonnen, Material und Informationen zu ihrer Geschichte zu sammeln. Das ist nicht einfach angesichts der enormen Größe ihres Gebiets im Altiplano, also dem Hochland. Aber die Zeit drängt, „todaviá es momento“, betonen die zu dem Treffen angereisten Vertreter aus San Lucas. Tatsächlich seien, so Felicidad Ibarra aus der comunidad Uruchini, Teil des Municipio San Lucas, die an dem Projekt mitwirkt, in einem interview, die Älteren „wandelnde Enzyklopädien“. Dieses Wissen müsse gesichert werden, auch für eine interkulturelle Erziehung, letztlich also für eine bessere Integration des plurinationalen Staates.

Natürlich gab es auch früher schon entsprechende Versuche, zum Beispiel den Taller de Historia Andina an der bolivianischen UMSA, wo man sich bereits in den 1980er Jahren um die Sammlung von Quellen und deren Übersetzung bemüht hat. Die Verfassung von 2009 hat aber, darin waren sich die Teilnehmer des Projekttreffens einig, neue Anreize gesetzt.

Plurinationaler Staat und plurinationale Historiographie?

Tatsächlich besteht nicht nur ein politischer, sondern auch ein sachlicher Zusammenhang zwischen der neuen Suche nach der eigenen Identität durch Geschichte und der neuen Verfassung aus dem Jahr 2009, in der sich Bolivien als plurinationaler, interkultureller, dezentralisierter Staat definiert, bei dem Autonomien eine besondere Rolle spielen. „Bolivien hat seine Grundlage“, so Art. 1 Abs. 2 der Verfassung, „in der Pluralität und im politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, kulturellen und linguistischen Pluralismus, innerhalb eines integrativen Prozess des Landes“ („Bolivia se funda en la pluralidad y el pluralismo político, económico, jurídico, cultural y lingüístico, dentro del proceso integrador del país“). Folgerichtig werden in Art. 2 den Angehörigen der Naciones y Pueblos Indígena Originario Campesinos weitreichende Selbstbestimmungsrechte eingeräumt. In Art. 190 Abs. 1 wird bestimmt, dass sie sich bei der Ausübung ihrer Jurisdiktionsbefugnisse nach ihren „Prinzipien, kulturellen Werten, Normen und eigenen Verfahren“ richten, allerdings begrenzt durch das Verfassungsrecht. Man hat sich also für einen sog. „schwachen Rechtspluralismus“ entschieden, also für eine Begrenzung der Autonomie durch die Verfassung. Die genaueren Zuständigkeitsabgrenzungen überließ man einem Spezialgesetz (Ley de Deslinde Jurisdiccional), das 2010 in Kraft trat. Dort ist in Art. 10 Abs. 1 geregelt, dass Autonomie in Bezug auf die Rechtsprechung sich auf die Angelegenheiten erstrecke, die in der Vergangenheit und in der Tradition dazu gehörten; sie solle unter Rückgriff auf ihre eigenen Normen, eigene noch gültige Verfahren und Wissensbestände ausgeübt werden (“La jurisdicción indígena originaria campesina conoce los asuntos o conflictos que histórica y tradicionalmente conocieron bajo sus normas, procedimientos propios vigentes y saberes, de acuerdo con su libre determinación”).

Juan Maraza Mamani begrüßt einen Vertreter der Marka Payaqullu San Lucas, © Thomas Duve

Man braucht kein Experte zu sein, um zu sehen, dass sich damit zahlreiche schwierige praktische Fragen ergeben, noch bevor man überhaupt anfängt, die Traditionen zu ermitteln: Welche Naciones y Pueblos Indígena Originario Campesinos werden anerkannt? Unter welchen Voraussetzungen können andere das erreichen? Wie geht man mit Selbstzuschreibungen um? Welche Anforderungen stellt man an die historische Stabilität von Traditionen? Wie ermittelt man Traditionen, Prinzipien, kulturelle Werte, Normen und Verfahren? – Die Liste ließe sich verlängern.

Schon diese Fragen dürften aber zeigen, dass hier zahlreiche Probleme angesprochen sind, über die man sich in den westlichen Rechts-, Kultur- und Sozialwissenschaften seit langer Zeit Gedanken macht: kulturelle Identität, Essentialismen, Reindigenisierungsprozesse, Ethnogenese, Rechtspluralismus etc. Entsprechend fasziniert blickten viele ausländische Beobachter auf den Prozess der Verfassungsgebung und der Implementierung in Bolivien, wurden doch nicht nur Forderungen der indigenen Bewegung eingelöst, sondern schienen auch eigene Hoffnungen und Wünsche über ein dekoloniales, pluralistisches besseres politisches System wahr zu werden. Bolivien setzte sich, so sah man es, an die Spitze eines globalen Prozesses, nämlich die Anerkennung der Rechte indigener Völker, die im internationalen Recht ihren Ausdruck unter anderem in der United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007 gefunden hatte.

So enthusiastisch manche diese Entwicklung verfolgten, so sehr ist inzwischen auch eine gewisse Ernüchterung eingetreten, erweist sich die Umsetzung  doch aus vielerlei Gründen als erheblich schwieriger als gedacht, wie die Arbeit der Kommission zur Überwachung der Implementierung selbst zeigt. Auch in diesem Bereich ist Normsetzung eben einfacher als Normdurchsetzung, worauf jüngst auch Karla Escobar in einem blogpost am Beispiel Kolumbiens hingewiesen hat. Vor allem die justicia indígena, also die Autonomie im Bereich der Rechtsprechung, ist umstritten, auch in Bolivien selbst. Und von manchen Großintellektuellen, die sich den indigenen Völkern und ihrer Geschichte zuwandten, um daran vor allem ihre post- oder dekolonialen Theorien zu schärfen, ist man enttäuscht.

Schwacher Rechtspluralismus und schwacher epistemischer Pluralismus?

Zeichen indigener Autoritäten, © Thomas Duve

Aus der Sicht der Rechtsgeschichte stellt sich die Frage, wie man mit der epistemischen Diversität in der Praxis umgeht, zumal wenn die Ergebnisse der Geschichtsschreibung politische, wirtschaftliche und rechtliche Relevanz haben. Wenn wir konsequent auf dem Boden der heutigen europäisch-anglo-amerikanischen Geschichtstheorie stehen, dann wissen wir, dass jede Geschichtsschreibung letztlich eine Konstruktionsleistung ist und dass die Parameter dieser Konstruktionsleistung kulturell gebunden sind. Andere Kulturen, andere Perspektiven auf die Geschichte – darin liegt geradezu ein Glaubenssatz dekolonialer oder postkolonialer Theorien und auch der Globalgeschichte. Keine epistemischen Hegemonien, sondern Offenheit für plurale Perspektiven heißt auch: Offenheit für andere Vorstellungen von Temporalität, also zum Beispiel für nicht-lineare Geschichtserzählungen; Offenheit für aus der europäischen Sicht essentialistische Geschichtsschreibungen, mit der stabile Identitäten konstruiert werden; Offenheit für andere wissenschaftliche Praktiken wie die Interpretation von Quellen, auch in Bezug auf die Authentizität einer Quelle.

Das mag in der Theorie richtig sein – taugt es aber für die Praxis? In mancher Hinsicht ist es vielleicht gar nicht so problematisch, wenn zum Beispiel, wie vom Gesetz bestimmt, Jurisdiktion nur über die Angehörigen der eigenen Gemeinschaft ausgeübt wird. Denn diese sind dann vielleicht auch Mitglied einer „epistemischen Gemeinschaft“. Das bedeutet natürlich nicht unbedingt Zustimmung zum konkreten Urteil, aber grundsätzliche Akzeptanz des Verfahrens. Schwieriger wird es schon, wenn an die Ergebnisse einer solchen auf partikularer epistemischer Grundlage geschriebener Geschichte handfeste Folgen geknüpft werden wie die Verteilung von immateriellen und materiellen Ressourcen durch den Staat. In Bolivien hat man versucht, den Rechtspluralismus in der Verfassung und durch das Jurisdiktionsabgrenzungsgesetz einzuhegen, ist im Ergebnis also zu dem schwachen Rechtspluralismus gekommen. Vielleicht liegt darin auch eine Lösung für Probleme, die sich aus der epistemischen Diversität ergeben: ein schwacher epistemischer Pluralismus. Das bedeutet letztlich, dass ein Konsens über Grenzen der epistemischen Diversität ausgehandelt werden muss. Institutionen wie die ABNB und Projekte wie Memoria Oral Boliviana sind wichtige Foren für diese Aushandlungsprozesse. Und sie produzieren Quellen für eine Rechtsgeschichte jenseits der Parameter der euro-angloamerikanischen Moderne.

Spanische Übersetzung


Cite as: Duve, Thomas: „Wir werden interviewed, aber andere schreiben.“ Plurinationale Geschichten für einen plurinationalen Staat?, legalhistoryinsight.com, 11.10.2023, https://doi.org/10.17176/20231013-103510-0

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