Rechtsgeschichte neben „Revolutionsspielen“. Die Eröffnung des Max-Planck-Institutsgebäudes und die Studentenproteste im Mai 1968

Am Montag, dem 13. Mai 1968, warnte Walter Rüegg, Rektor der Goethe-Universität, vor einem vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) geplanten Generalstreik an der Universität. Tatsächlich begannen die Proteste am Mittwoch um 7 Uhr morgens; Streikposten versperrten für zwei Tage den Zugang zu den Frankfurter Universitätsgebäuden. Am Tag zuvor, am 14. Mai 1968, nahm Rüegg an der Einweihungsfeier der neuen Räumlichkeiten des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte teil, auf Einladung von Adolf Butenandt, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, und Institutsdirektor Helmut Coing.

So nah sich die Ereignisse des Festaktes und der Blockade der Universität zeitlich und räumlich waren – das von der Max-Planck-Gesellschaft erworbene Gebäude im Frankfurter Westend war nur einen Kilometer vom Campus Bockenheim entfernt –, so fern schienen sie auch.

Überblick: Gründungsgeschichte des MPI für europäische Rechtsgeschichte

Die ursprüngliche Idee für das neue Institut war bereits 1959 entstanden, als der Rechtshistoriker Erich Genzmer der Max-Planck-Gesellschaft ein Institut für vergleichende Rechtsgeschichte vorschlug.[1] Dieser Vorschlag stieß auf den Widerstand einiger Fachkollegen, die in der Gründung eines solchen Max-Planck-Instituts eine Bedrohung ihrer eigenen Forschungsgebiete an den Universitäten sahen. Die daraufhin von der Max-Planck-Gesellschaft eingesetzte Kommission sprach sich für eine Gründung aus, wich allerdings deutlich von der ursprünglichen Idee Genzmers ab. Sie schlug vor, das Institut nach Projekten zu gliedern und Helmut Coing als Gründungsdirektor zu berufen. Politische Auseinandersetzungen über die grundsätzliche Ausrichtung der Max-Planck-Gesellschaft im Bereich der Geisteswissenschaften, das Problem der adäquaten Besetzung der neu geschaffenen Stellen sowie die Frage der Benennung des neuen Instituts verzögerten die Arbeitsaufnahme.

1964 wurde schließlich das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte gegründet. Die ersten organisatorischen Schritte fanden in Coings Universitätsinstitut statt, bevor das Institut am 1. April 1964 in angemieteten Räumen in der Feldbergstraße 26/28 die eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Zum 1. Januar 1967 beschäftigte das MPI 14 ständige (und ausschließlich männliche) Mitarbeiter, vier auswärtige Mitarbeiter sowie sechs wissenschaftliche Hilfskräfte und Stipendiaten. Geplant war zunächst, ein eigenes Institutsgebäude in Niederrad zu errichten. Da sich die Planungen für den Bau hinzogen, erwarb die Max-Planck-Gesellschaft ein Gebäude in der Freiherr-vom-Stein-Straße 7 im Frankfurter Westend, in welches das Institut Ende März 1968 einzog. Die Kosten für den Erwerb der Immobilie einschließlich der Umbaukosten beliefen sich auf 2.250.000 DM.

Saal der Berliner Handels-Gesellschaft. 2. v.l.: Helmut Coing, 4. v. l.: Walter Rüegg, © Archiv der MPG, VI. Abt., Rep. 1, MPI f. europ. Rechtsg. 13

Studentenbewegung in Frankfurt am Main

Frankfurt war neben Berlin einer der zentralen Orte der westdeutschen Studentenbewegung in den 1960er-Jahren. Das Jahr 1968 kann als Höhepunkt der Proteste angesehen werden.

Unter dem Einfluss der Frankfurter Schule und ihrer prägenden Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Institut für Sozialforschung (IfS) entstand in den 1960er Jahren an den deutschen Universitäten eine Neue Linke, die sich kritisch mit den gesellschaftlichen und universitären Strukturen auseinandersetzte. Hatten sich die ersten Studentendemonstrationen im Mai 1966 und Februar 1967 noch gegen den Vietnamkrieg gerichtet, wurden zunehmend die Angst vor einem autoritären Staat, die Sparmaßnahmen im Bildungsbereich, die Mitbestimmungsrechte und die Studienorganisation an den Hochschulen sowie die unzureichend aufgearbeitete NS-Vergangenheit zu den Beweggründen der deutschen Studentenbewegung.

Trotz der studentischen Proteste und der Bewegung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) beabsichtigte der Bundestag, die sogenannten Notstandsgesetze in einem aufgeheizten politischen Klima im Mai 1968 zu verabschieden. Am Mittwoch, dem 15. Mai 1968, fanden während der zweiten Gesetzeslesung im Bundestag Protestaktionen in 25 Universitätsstädten statt. Schwerpunkte der studentischen Proteste waren die Universitäten in Berlin, Frankfurt am Main und Marburg. Die Protestwelle stand unter dem Eindruck der vorangegangenen Wochen. Im April hatte ein rechtsextremistischer Attentäter Rudi Dutschke, einen der bekanntesten Wortführer der Protestbewegung, schwer verletzt. Tausende Demonstranten gaben dem Springer-Verlag eine Mitschuld am Attentat, belagerten die Frankfurter Societäts-Druckerei und versuchten, die Auslieferung der Bild-Zeitung zu blockieren. Im Zuge dieser sogenannten Osterunruhen gab es aufgrund des gewalttätigen Vorgehens von Demonstranten und Polizei Hunderte Verletzte.

Am Montag, dem 13. Mai, war an den Außenwänden der Goethe-Universität der Aufruf zu lesen: „VDS und SDS rufen zum Generalstreik an den Universitäten auf. Zerschlagt das Komplott aus Wirtschaft und Wissenschaft. Besetzt die Universität am Mittwoch“ (FNP 14.05.1968, 1). Der SDS verkündete in einem Flugblatt, „die Zeiten des Protests [seien] vorüber“ und „jetzt [helfe] nur noch Widerstand“ gegen die als „NS-Gesetze“ titulierten Notstandsgesetze. Statt die Universität zu besetzen, wie es der SDS forderte, rief der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) allerdings lediglich zu einem Streik auf. Diesem Appell des VDS schlossen sich einige Hochschullehrer an (FNP 14.05.1968, 3). Infolgedessen veröffentlichte Universitätsrektor Rüegg einen Aushang, in dem er über die Bitte des VDS informierte, am kommenden Mittwoch die Lehrveranstaltungen auszusetzen, um stattdessen die Notstandsgesetze zu diskutieren. Rüegg sah die Notstandsgesetzgebung ebenfalls kritisch (vgl. bspw. FAZ 17.05.1968, 38) und richtete an die Professoren die Bitte, zu Beginn der Vorlesungen am Mittwoch festzustellen, „ob die Mehrheit der Hörer der Fachvorlesungen eine Diskussion über die Notstandsgesetze vorziehen würde.“ Gleichzeitig warnte er, der SDS versuche die Bitte des VDS zu unterlaufen, um durch eine „lang andauernde Besetzung der Universität“ Polizeimaßnahmen zu provozieren. Zudem rief er alle Universitätsangehörigen auf, sich nicht zu „Gewalttätigkeiten hinreißen zu lassen“.

Dichtes Gedränge vor dem Haupteingang der Goethe-Universität am Campus Bockenheim (Mai 1968), © Philip Kerner, ISG FFM, S7Z 1968-141

Daraufhin berieten am Dienstagabend ca. 2000 Studierende bei einer Vollversammlung darüber, wie der Protest zu gestalten sei. Die Mehrheit stimmte dafür, den Lehrbetrieb am kommenden Tag zu verhindern.

„In den Morgenstunden wurden sämtliche Seiteneingänge der Universität mit eisernen Ketten, Bauklammern, Brettern und Balken, Sandsäcken und Zementbehältern verbarrikadiert. In der Mertonstraße sowie im Hauptgebäude an der Senckenberganlage und in der Gräfstraße zogen ‚Streikposten‘ auf. Kurz nach 8 Uhr kam es zu den ersten Schlägereien“ (FNP 16.05.1968, 3). So berichtete die Frankfurter Neue Presse über die Ereignisse am Mittwoch. Rüegg, der am Morgen durch einen noch nicht blockierten Hintereingang in sein Büro gelangt war, kritisierte das Vorgehen der Studierenden als „illegal“: dieses sei nicht vom Streikrecht des Grundgesetzes gedeckt. Zugleich bekräftigte Rüegg, er lasse sich „nicht zu einem Polizeieinsatz provozieren“, um das Hausrecht durchzusetzen (FR 16.05.1968, 3). Durch die Versuche einiger Studenten, die Blockade zu durchbrechen, kam es zu mehreren Handgreiflichkeiten; eine Glastür des Haupteingangs ging zu Bruch. Zu den schwersten Auseinandersetzungen kam es, nachdem einige „Streikbrecher“ über die Fenster im Erdgeschoss in das besetzte Gebäude gelangten und die Streikposten von innen mit einem Schlauch nass spritzten. Der SDS-Bundesvorsitzende Karl Dietrich Wolff sagte später, die protestierenden Studenten hätten nur „passiven Widerstand“ geleistet – im Gegensatz zu den „rechtsgerichteten Studenten“, die versuchten, den Streik zu brechen (FNP 16.05.1968, 3-4). An den Protesten gegen die Notstandsgesetze beteiligten sich außerdem rund 10.000 Beschäftigte aus zwanzig Frankfurter Betrieben mit Warnstreiks sowie weit über 1.000 Schüler, die den Unterricht bestreikten.

Am darauffolgenden Donnerstag, dem 16. Mai 1968, waren bereits kurz nach 6 Uhr morgens die Eingänge des Universitätsgebäudes mit Brettern und Gittern verbarrikadiert. Im Laufe des Vormittags unternahm eine Gruppe von Studenten eines Aktionsbündnisses, das sich gegen die Blockade gebildet hatte, mehrere Durchbruchsversuche. Schließlich waren diese erfolgreich: Etwa um 11:30 Uhr waren alle Eingänge des Universitätsgebäudes wieder geöffnet. Bei den tätlichen Auseinandersetzungen wurden 20 Personen verletzt. Der SDS beschuldigte die Streikbrecher des Aktionskomitees sowie den Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), die „Schlägereien initiiert“ und ihre Gegner mit Eisenstangen angegriffen zu haben (FR 17.05.1968, 13; FNP 17.05.1968, 3-4). Die SDS-Sprecher Wolff und Krahl sprachen ferner von einer „faschistischen Schlägertruppe“ (FAZ 17.05.1968, 37).

Vor dem Hauptgebäude nahmen Walter Rüegg und Kultusminister Ernst Schütte bei einer Versammlung von etwa 2000 Studierenden gegen Mittag Stellung zu den Vorkommnissen (Uni-Report, 3). Dabei kritisierte Rüegg erneut das Vorgehen der SDS und bezeichnete dieses als „psychische und physische Gewalt“ (FAZ 17.05.1968, 38). Später kündigte er an, dass er auf disziplinarrechtliche Maßnahmen verzichten, aber die ihm bekannten Straftaten „als Staatsbürger – aber nicht als Rektor“ zur Anzeige bringen werde (FR 18.05.1968, 13). Der Lehrbetrieb konnte am Nachmittag bereits zum Teil wieder aufgenommen.

Eröffnungsveranstaltung des MPI für europäische Rechtsgeschichte

Zwei Tage vor den Unruhen am Donnerstag, dem 16. Mai 1968, waren etwa 200 Gäste aus Politik, Wissenschaft und Justiz zum Eröffnungsfestakt des Max-Planck-Instituts eingeladen. Aufgrund der großen Zahl der Gäste konnte die Veranstaltung nicht im Institutsgebäude stattfinden, sondern wurde in den Saal der Berliner Handels-Gesellschaft verlegt. Helmut Coing sah den Veranstaltungsort als „ästhetische Umgebung“ und hoffte, bei den Teilnehmern so „einen sympathischen Eindruck“ zu hinterlassen (AMPG II 36 Nr. 20: Schreiben Coing, 16.05.1968). Während des Festakts sollte Adolf Butenandt, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, eine Büste von Max Planck übergeben. Im Anschluss an die Ansprachen des Präsidenten, des Frankfurter Oberbürgermeisters und einiger Professoren europäischer Universitäten war die Besichtigung des nahe gelegenen Institutsgebäudes vorgesehen. Dort standen für die Gäste kalte Platten mit Canapés vom Hessischen Hof bereit – deren Belag, wie eine handschriftliche Ergänzung der Aktennotiz anmerkt, nicht zu üppig ausfallen durfte – sowie Bier und Fruchtsäfte (AMPG II 36 Nr. 20: Aktennotiz).

In seiner Ansprache erläuterte Direktor Helmut Coing die Forschungsziele des Instituts. Zunächst sollte sich der Fokus auf die Privatrechtsgeschichte derjenigen westlichen Staaten richten, deren Grundlage das römisch-kanonische Recht war. Dabei betonte Coing, es gehe nicht nur um die Erforschung der Rechtsgeschichte, sondern auch um die europäische Zukunft: die historische Analyse sollte dazu beitragen, ein modernes gemeinsames Recht für Europa zu schaffen.

v.l.: Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher, Präsident der MPG Adolf Butenandt, Erika Bollmann und Institutsdirektor Helmut Coing, © Archiv der Max-Planck-Gesellschaft VI. Abt., Rep. 1, MPI f. europ. Rechtsg. 14

Weiter führte Coing in seinem Vortrag aus, dass „Recht keine rein theoretische Disziplin [sei], sondern sich […] in der Praxis, in der Anwendung und im Kampf mit den widerstreitenden Interessen bewähren [müsse]“ (Coing, 339). Ein solcher „Kampf“ widerstreitender Interessen ließ sich auch nicht weit entfernt auf dem Campus beobachten. Folglich fanden die für den nächsten Tag angekündigten Protestaktionen vereinzelt Eingang in die Festreden. Dabei hatten die Redner nur begrenzt Verständnis für die Protestaktionen: Hans Peter, Professor an der Universität Zürich, sprach von „Dummheit und Frechheit“, die sich an den Universitäten breitgemacht habe (FNP 15.05.1968, 3). Der Frankfurter Rektor Rüegg charakterisierte die Vorgänge an seiner Universität als „sozialromantische Revolutionsspiele“. Gleichzeitig warnte er vor einer „durch den Staat geförderte Politisierung des Hochschulunterrichts“ und einer „Überbürdung […] mit Lehraufgaben“. Entsprechend begrüßte Rüegg die Gründung des neuen Instituts. Dieses könne neue Forschungsimpulse geben und eine von „Tagesmoden“ unabhängige Forschung pflegen, ohne dass „die Wissenschaft zur Waffe intellektueller Verführter“ werde (UAF, Abt. 5, Nr. 2377 Bl. 2-4).

Coing, vormals selbst Rektor der Goethe-Universität und Dekan des juristischen Fachbereichs, schilderte seine Sicht auf die Ereignisse am Universitätscampus in einem Brief, den er am Freitag nach der Blockade an Peter richtete. In ihm brachte er seine Besorgnis zum Ausdruck, dass „demokratisch gewählte Autoritäten, die doch jedes Recht zu handeln hätten, zurückweichen“. Weiter schilderte er: „Streikposten [standen] vor der Universität, und ich habe nicht in mein Universitätsinstitut gehen können. Das letzte Mal, daß so etwas passiert ist, war während meiner eigenen Studienzeit, als die Nazis die Vorlesungen der jüdischen Professoren in dieser Weise ‚bestreikten‘. Ein einziger Lichtblick hat sich gezeigt. Die Besetzung der Universität ist gestern durch Gruppen anderer Studenten gebrochen worden, aber natürlich nicht ohne Schlägereien“ (AMPG II 36 Nr. 20: Schreiben Coing, 17.05.1968).

Weitere Entwicklung am Campus und am Institut

Wenngleich die Blockade zum Ende der Woche aufgelöst wurde, setzte sich die Studentenbewegung fort. Auch Coing blieb davon nicht unberührt.

Rektoratsbesetzung und Karl Marx

Bereits am 22. Mai 1968 beschloss eine studentische Vollversammlung einen erneuten Streik; gleichwohl sollte diesmal, wie es auf einem Plakat zwei Tage später über dem Eingang hieß, der Zugang für „NS-Befürworter“ und „Fachidioten“ möglich bleiben. Dennoch hielt der Senat der Goethe-Universität die Fortsetzung des Lehrbetriebs für unzumutbar und sah sich gezwungen, alle universitären Lehrveranstaltungen ab dem 27. Mai abzusagen. Am Mittag des 27. Mai brachen Studierende in die Räumlichkeiten des Rektorats ein und hielten es einige Tage lang besetzt. Am Folgetag beschlossen SDS und Sympathisanten, die Universität in „Karl-Marx-Universität“ umzubenennen; daraufhin überklebten SDS-Mitglieder am 29. Mai den bisherigen Namensschriftzug auf dem Hauptgebäude: „Marx“ verdeckte „Goethe“.

Kurzzeitige „Umbenennung” in Karl-Marx-Universität durch den SDS (vermutl. 29. Mai 1968), © Universitätsarchiv Frankfurt, Abt. 850 Nr. 575

Stärker als die Fassade des Hauptgebäudes wurde jedoch das Rektorat in jenen Tagen in Mitleidenschaft gezogen: Räume wurden verschmutzt, Mobiliar zerstört und Schränke aufgebrochen, so dass ein Schaden von 70.000 DM entstand. Auch der Talar und das Barett von Helmut Coing wurden während der Besetzung entwendet. Heinz Mohnhaupt, seit dem 1. April 1966 Wissenschaftler am MPI und zugleich einige Jahre Verwaltungsassistent Coings, berichtete, der Diebstahl habe Coing „sehr entsetzt“; er habe ihn als „Verrat an der freien Wissenschaft und der Tradition“ empfunden.[2]

„68er“-Bewegung am Fachbereich Rechtswissenschaft

Bernhard Diestelkamp, von 1967 bis 1994 Professor für Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht in Frankfurt, berichtete, dass die „68er“-Bewegung am Fachbereich Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität zu einem Umbruch geführt habe. Mit ihren inhaltlichen Reformwünschen seien Studierende bei jüngeren Professoren wie Erhard Denninger und Rudolf Wiethölter durchaus auf Diskussionsbereitschaft gestoßen (Diestelkamp, 27-28). Wiethölter etwa legte im „Funkkolleg Rechtswissenschaft“ seine Vorstellung der modernen Jurisprudenz dar und führte aus, dass „für eine moderne politische Gesellschaft […] Recht erst noch geschaffen“ werden müsse. Dieses sei „nicht schon vorhanden.“ Die „großen Zeitfragen heute“ seien „von anderem Rechtsrang als die Zeitfragen der Vergangenheit“: „Ohne politische Rechtstheorie für die Gegenwart einer politischen Gesellschaft, die ‚begreift‘, daß und wie wir verstrickt sind in eine überholte ‚Rechtskultur‘, gelangen wir nicht auf die Höhe unserer Zeit, sondern erstarren wir in der Tiefe der Vorzeit“ (Wiethölter, 9-10).

Nach Diestelkamp standen Coing und andere konservative Kollegen diesen Reformbestrebungen ablehnend gegenüber, was zu Spannungen innerhalb des Professorenkollegiums geführt habe. In der Folge seien die rechtshistorischen Professoren des Fachbereichs nicht mehr zu Vorträgen an das MPI eingeladen worden. Zudem sei Coing selbst in inhaltliche Auseinandersetzungen mit Studierenden geraten. Hörer seiner Rechtsphilosophie-Vorlesung sollen ihn im Rahmen einer Diskussion in solche Bedrängnis gebracht haben, dass er in seinem Schreiben an das Dekanat bat, künftig nicht mehr die Vorlesung der Rechtsphilosophie halten zu müssen.[3]

„68er“-Bewegung auch am Max-Planck-Institut?

Heinz Mohnhaupt charakterisierte Helmut Coing als „fairen, liberalen und sehr bestimmten Professor“ sowie als „guten Diplomaten“, der sich sehr darum bemüht habe, das Institut von der Universität und damit von der Studentenbewegung fernzuhalten.[4] Mit Ausnahme Coings selbst übte keiner seiner Mitarbeiter eine Lehrtätigkeit an der Universität aus. Ebenso habe es bereits Vorkehrungen gegeben, falls die studentischen Proteste einmal das Institutsgebäude im Westend zum Ziel haben sollten. Hierzu kam es jedoch nie. Allerdings, so Mohnhaupt, sei das Institut von den Ideen der „68er“ nicht ganz abgeschirmt gewesen. Das Hinterfragen  bestehender Strukturen erreichte unter den Schlagwörtern „Mitberatung“ und „Mitbestimmung“ auch das MPI und führte zu Diskussionen zwischen konservativen und progressiven Mitarbeitern.[5] Besonders kämpferisch zeigte sich der zur gleichen Zeit mit Heinz Mohnhaupt eingestellte Dieter Grimm (später Richter des Bundesverfassungsgericht), der die Auseinandersetzung mit Institutsdirektor Coing über strukturelle Reformen nicht scheute. Coing entgegnete Grimms Forderungen bei einer Mitarbeitersitzung über Strukturfragen im Jahr 1970: „Damit werden Sie scheitern. Und merken Sie sich eins: ‚Wer aber statt Mitsprache Mitentscheidung‘ fordert, ‚leugne(t) den Unterschied in der wissenschaftlichen Erfahrung‘“ (Gilcher-Holtey, 58). Die Forderung nach „Mitbestimmung“ setzte sich tatsächlich nicht durch; ein Mitspracherecht hingegen konnte verankert werden.

Und heute?

Das Notstandsgesetz wurde trotz aller Proteste schließlich am 30. Mai 1968 vom Bundestag verabschiedet und ist seitdem Teil des Grundgesetzes. Der SDS löste sich 1970 auf. Dennoch ist die Frankfurter Universität ein politischer Ort geblieben, was nicht zuletzt die Hörsaalbesetzung durch die Gruppe End Fossil Frankfurt 2022, die monatelange Besetzung der ehemaligen Dondorf-Druckerei 2023 und das Palästina-Protest-Camp 2024 zeigen. Ebenfalls sind ab und an Plakate der 2007 neugegründeten SDS-Hochschulgruppe auf den Campus zu sehen, die beispielsweise „BAföG statt Bomben“ propagieren, und auch die Idee einer Karl-Marx-Universität scheint noch nicht gänzlich der Vergangenheit anzugehören. Heutige Proteste reichen jedoch nicht annähernd an die Ausmaße von 1968 heran.

l.: Institutsgebäude am Campus Westend, r.: „Karl-Marx-Universität”-Banner am Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim (6. März 2025), © Leonard Bug

Das MPI wird heute von einer Direktorin und zwei Direktoren geleitet und beschäftigt über 150 Mitarbeitende. Zum 1. Januar 2021 wurde es in „Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie“ umbenannt. Die Namensänderung bringt sowohl den globaleren Zuschnitt der Forschung als auch die Erweiterung des Forschungsprogramms durch die neugegründete Abteilung „Multidisziplinäre Rechtstheorie“ zum Ausdruck. Beheimatet ist das Institut, inzwischen erweitert um eine Dependance in der Nähe des Eschenheimer Turms, auf dem Campus Westend der Goethe-Universität am Helmut-Coing-Weg.

Literatur

Archivalische Quellen

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (AMPG)

  • AMPG II 36 Nr. 20: Aktennotiz betr. kaltes Buffet zum Mittag der Einweihungsfeier.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Besprechung am 6. März 1968 mit Herrn Pollay, Generalverwaltung.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Einladung Walter Rüegg, 19.04.1968.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Gesprächsnotiz, 06.03.1968.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Schreiben Coing an Dohrn, 16.05.1968.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Schreiben Coing an Peter, 17.05.1968.
  • AMPG II 36 Nr. 20: Teilnehmerkreis der Einweihungsfeier.

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG)

  • ISG, S1/167 Nr. 74.

Universitätsarchiv Frankfurt am Main (UAF)

  • UAF, Abt. 5, Nr. 5 Bl. 1: Verlustanzeige von Talaren und Baretts, 12.06.1968.
  • UAF, Abt. 5, Nr. 2377 Bl. 2-4: Redemanuskript Walter Rüegg zur Einweihung des MPIeR, 14.05.1968.
  • UAF, Abt. 5, Nr. 2377 Bl. 5: Einladung Feierstunde Walter Rüegg.

Monografien und Beiträge zu Sammelwerken

Albrecht, Willy (1994), Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte 35), Bonn.

Coing, Helmut (1968), Festvortrag. Forschungsaufgaben des Instituts, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 5, 338–356.

Demm, Sabine (2001), Die Studentenbewegung von 1968 in Frankfurt am Main – Eine Chronologie, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 67, 161-247.

Diestelkamp, Bernhard (2018), Schmerzhafter Umbruch. 1968 im Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität, in: Forschung Frankfurt. Das Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität 35(1), 27-30.

Einweihung des neuen Gebäudes des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt/Main, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 5, 333-356.

Fleiter, Michael (2023), Frankfurt seit 1945. Ein historischer Streifzug, in: Marie-Luise Recker (Hg.), Tradition und Wandel Frankfurt am Main, Bd. 2, Göttingen, 267-395.

Franz, Eckhart G. (Hg.) (1991), Die Chronik Hessens, Dortmund.

Gilcher-Holtey, Ingrid (2018), Verfassung gestern: Rebell in Robe?, in: Ulrike Davy/Gertrude Lübbe-Wolff (Hg.), Verfassung: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Autorenkolloquium mit Dieter Grimm (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 57), Baden-Baden, 45-62.

Hammerstein, Notker (2012), Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 2. Nachkriegszeit und Bundesrepublik 1945 – 1972, Göttingen.

Schneider, Michael (1986), Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze, Bonn.

Thiessen, Jan (2023), Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, in: ThomasDuve/Stefan Vogenauer u.a. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Max-Planck-Gesellschaft, 1948–2002 (Studien zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 2), Göttingen, 141-196, https://doi.org/10.13109/9783666993718.141

Walther, Rudolf (2018), Als Studenten Goethe mit Marx vertrieben. Was 1968 an der Universität Frankfurt geschah, in: Forschung Frankfurt. Das Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität 35(1), 5-12.

Wiethölter, Rudolf (1968), Rechtswissenschaft. Funk-Kolleg zum Verständnis der modernen Gesellschaft 4. Frankfurt am Main/Hamburg.

Presse-Artikel

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)

  • Dieter Vogt: Hunderte durchbrechen die Postenketten der SDS; FAZ 17.05.1968, 37-38.

Frankfurter Neue Presse (FNP)

  • Rektor Rüegg: Der SDS lügt. VDS ruft zu Notstands-Diskussion auf; FNP 14.05.1968, 1.
  • Studenten-Streik oder Revolutionsspiel? Vorbereitungen für Mittwoch/Rüegg über den SDS; FNP 14.05.1968, 3.
  • Geschichte kann der Zukunft dienen. Neues Heim für das sechste Max-Planck-Institut in Frankfurt; FNP 15.05.1968, 3.
  • Streik der Studenten: Barrikaden und Schlägereien. Keine Vorlesungen an der Frankfurter Universität/Schüler auf der Straße; FNP 16.05.1968, 3-4.
  • Studenten brechen Blockade. Rektor Rüegg räumt Barrikaden – Zinn und Brundert mahnen zur Besonnenheit; FNP 17.05.1968, 1.
  • Sturm auf die Universität: Es gab Verletzte. Gegner des SDS verschaffen sich gewaltsamen Eintritt; FNP 17.05.1968, 3-4.

Frankfurter Rundschau (FR)

  • Protest in 25 Universitätsstädten. Aktion gegen Bonner Notstandsgesetze/Viele Professoren solidarisch; FR 16.05.1968, 1.
  • Oscar Link: Der Rektor kam durch die Hintertür. Die Blockade der Frankfurter Universität; Interview mit Prof. Rüegg und Frank Wolff (SDS); FR 16.05.1968, 3.
  • Die einen sehen Gewalt – andere Widerstand. Der zweite Tag der Universitätsblockade/Rektor beseitigte Barrikaden/Diskussion mit Kultusminister; FR 17.05.1968, 13.
  •  „Universität ist überfordert”. Rektor Rüegg: Auf disziplinarrechtliche Maßnahmen verzichten; FR 18.05.1968, 13.

Uni-Report Johann Wolfgang Goethe-Universität (Uni-Report)

  • Vom 13. Mai zum 15. Juni. Kurze Chronik aus den Tagen einer “umfunktionierten Universität”, 1968(5, 20.06.1968); Uni-Report, 3-4.

[1] Die Darstellung stützt sich im Folgenden vor allem auf die detailreiche Studie zur Geschichte des Instituts von Thiessen, 141-152.

[2] Gespräch mit Heinz Mohnhaupt vom 06. März 2025.

[3] Diestelkamp führt dazu aus, dass Coing „seine Venia Legendi für Rechtsphilosophie zurückgab und niemals wieder eine rechtsphilosophische Veranstaltung angeboten hat“ (Diestelkamp, 27). Im Universitätsarchiv ist dieser Vorfall nicht dokumentiert. Dort finden sich lediglich Aufzeichnungen, wonach Coing darum bittet, künftig nur noch die Vorlesung zur Rechtsgeschichte zu halten. Dies begründet er damit, dass ihn seine Tätigkeit als Direktor am MPI zeitlich stark beanspruche. Vgl. hierzu: UAF, Abt. 114 Nr. 191, S. 1-10, 12, 20-21.

[4] Thiessen 159 ist zudem zu entnehmen, dass Coing 1970 in Betracht zog, aufgrund der Vorkommnisse rund um die Studentenproteste, das Institut nach Bern zu verlagern oder jedenfalls das Institut von dort aus zu leiten.

[5] Gespräch mit Heinz Mohnhaupt vom 06. März 2025.


Cite as: Bug, Leonard: Rechtsgeschichte neben „Revolutionsspielen“. Die Eröffnung des Max-Planck-Institutsgebäudes und die Studentenproteste im Mai 1968, legalhistoryinsights.com, 26.06.2025, https://doi.org/10.17176/20250701-133807-0

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