Nichtstaatliches Kündigungsrecht im Nationalsozialismus?

In unserer Institutsabteilung wird derzeit eine Quellendatenbank aufgebaut. Erschlossen werden Regelwerke des nichtstaatlichen Arbeitsrechts der Metallindustrie . Die Arbeiten haben mittlerweile eine Vielzahl von Quellen zutage gefördert, ca. 780 sind es mittlerweile. Doch welchen Mehrwert für die Arbeitsrechtsgeschichte erbringen sie? Ein Beispiel soll diesen verdeutlichen. Es betrifft die Regelung der außerordentlichen (fristlosen) Kündigung in der NS-Zeit. Dieses Thema ist auch deswegen interessant, weil die diesbezügliche Forschung einen blinden Fleck aufweist. Denn auch für diese Zeit orientiert sie sich vor allem – was die materiellrechtlichen Aspekte betrifft – an den Kündigungsvorschriften des BGB (Kranig 1983, S. 47 f.; Koch 1988; Thiele 2000; Deutsch/Keiser 2013, S. 1331 f.). Diese traditionelle Fixierung auf das BGB-Recht verstellt aber den Blick darauf, dass für eine der größten Arbeitnehmergruppen, nämlich die Arbeiter in Industrie und Handwerk, andere Kündigungsbestimmungen galten, aus denen ganz andersartige Regelungsprobleme erwuchsen.

Ausgangspunkt ist § 27 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 (AOG) – ein Gesetz, mit dem die normative Ordnung der Arbeitswelt in einem nationalsozialistischen Sinne umgestaltet werden sollte. Die Regelung des 27 Abs. 1 Nr. 5 erlaubte eine Ausweitung des Kündigungsrechts auf untergesetzlicher Ebene. Denn an sich galt für die Arbeiter § 123 Gewerbeordnung (GewO) (der als lex specialis § 626 BGB verdrängte). Die Norm regelte die außerordentliche, d. h. fristlose Kündigung und führte acht Fallgruppen von Kündigungsgründen an. Fehlverhalten, dass nicht durch diese Gruppen erfasst war, konnte nicht, jedenfalls nicht durch die außerordentliche Kündigung, sanktioniert werden (wenn man vom „Ausnahmefall“ [Hueck/Nipperdey 1928, S. 288] des § 124a GewO absieht). Abhilfe für diese Fälle schuf nunmehr § 27 Abs. 1 Nr. 5 AOG. Die Bestimmung ermöglichte die Ausweisung weiterer Kündigungsgründe in der Betriebsordnung, einem Regelwerk, das die Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher Ebene normierte. An sich war diese Möglichkeit, Kündigungsmöglichkeiten auf betrieblicher Regelungsebene auszuweiten, nicht neu (§ 134b Abs. 1 Nr. 3 GewO). In der Weimarer Republik musste dies jedoch in Arbeitsordnungen geschehen, die zwischen Unternehmer und Betriebsrat zu vereinbaren waren. Der Erlass der Betriebsordnungen in der Zeit des Nationalsozialismus lag hingegen allein in der Hand des Betriebsinhabers. Ein diesem zur Seite gestellter Vertrauensrat hatte zwar ein Informations-, Stellungnahme- und Beschwerderecht, aber kein Mitbestimmungsrecht.

In unserer Quellensammlung haben wir derzeit 27 Betriebsordnungen aus nationalsozialistischer Zeit gesammelt. Die weitaus meisten stammen aus Sachsen, dessen Bestände unsere Projektmitarbeiterin Johanna Wolf schon umfassend erschlossen hat. Der Rest stammt aus Süddeutschland und dem Ruhrgebiet. Fast alle wurden 1934 erlassen, also in unmittelbarer Umsetzung der Vorgaben des AOG.

Nahezu alle vorliegenden Betriebsordnungen erweiterten das Recht zur außerordentlichen Kündigung über die Kündigungsgründe des § 123 GewO hinaus. Bei den sächsischen fällt jedoch ein oft identisches Muster auf. In nahezu wörtlicher Übereinstimmung findet sich dort folgende Formulierung:

Aus: Betriebsordnung der G. Krautheim AG Chemnitz vom 24. September 1934 (Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, 30942 Eisengießerei G. Krautheim AG, Chemnitz, Signatur 300)

Zuweilen variierten die Paragraphennummern, aber das Muster blieb weitgehend gleich. Der genannte § 38 der sächsischen Betriebsordnungen führte Strafarten (Bußen) auf, zu deren Festsetzung der Betriebsführer ebenfalls gesetzlich ermächtigt war (§ 27 Abs. 1 Nr. 4 AOG). Als Bußen sahen die sächsischen Betriebsordnungen neben Verwarnung und Geldstrafe regelmäßig auch die Entlassung vor. § 40 der sächsischen Betriebsordnungen enthielt dann einzelne Bußtatbestände. Hierunter fielen zum Beispiel

  • Mitbringen alkoholischer Getränke oder Trunkenheit
  • Rauchen im Betrieb
  • Verunreinigung von Abortanlagen
  • Mitnahme von Gegenständen
  • Unberechtigtes Fernbleiben von der Arbeit
  • Umherführen von Unberechtigten im Betrieb
  • Verlassen oder Betreten des Betriebes auf anderen als den vorgeschriebenen Wegen

Wiederholte Erfüllung dieser Tatbestände sollte die Entlassung nach sich ziehen können.

Mit dieser Art der Regelung geht eine interessante semantischen und systematische Verschiebung einher. Denn das AOG ließ zwar eine Ausweitung der Kündigungsgründe zu und die in Betriebsordnungen statuierten Kündigungsgründe sollten so neben das staatliche Recht treten. Soweit sie als Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung statuiert wurden, blieben sie aber – trotz der „gemeinschaftsrechtlichen“ Gesamttendenz der AGO – immer noch Bestandteil eines vertragsrechtlichen Modells. Denn sie modifizierten die Bedingungen der Inanspruchnahme eines privatrechtlich vorgesehenen Vertragsbeendigungsinstruments. Die meisten sächsischen Betriebsordnungen lösten diese Vertragsbeendigung jedoch aus diesem privatrechtlichen Zusammenhang heraus. Denn „Entlassung“ als Teil des Bußenkatalogs der Betriebsordnungen war eine Strafe, aber keine vertraglich vereinbarte, also keine Konventionalstrafe. Vielmehr wurde diese Strafe ausgesprochen in Ausübung hierarchischer Gewalt. Somit hielt das „Herr im Hause“-Prinzip wieder Einzug in die sächsischen Metallunternehmen, und zwar in noch stärkerem Maße im AOG ohnehin angelegt. Dies entsprach keinesfalls dem Konsens in der Literatur. Dort wurde – unter anderem auch durch den maßgeblich für die Ausarbeitung des AOG verantwortlichen Ministerialdirektor Werner Mansfeld – die Einstufung der Entlassung als Strafe abgelehnt (Hueck/Nipperdey/Dietz 1943 S. 384; Hofmann 1938, S. 49; Mansfeld 1943, S. 107; i. E. auch Dersch 1934, S. 186) und darauf verwiesen, dass in der Praxis eine derartige Strafe in eine außerordentliche Kündigung umzuinterpretieren sei (Hueck/Nipperdey/Dietz 1943 S. 384). Die praktischen Konsequenzen mögen also gering gewesen sein, zumindest dann, wenn es zu einer rechtlichen Überprüfung derartiger Entlassungen kam. Für die Ebene des nichtstaatlichen Rechts lässt sich jedoch konstatieren, dass die privaten Rechtssetzer ihr Sanktionsregime nicht nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung ausweiteten, sondern durch die Integration der Entlassung in das Bußensystem die staatsgesetzlichen Regelungszwecke – nämlich den weiteren Verbleib der Entlassung im vertragsrechtlichen Konstruktionsmodell – unterliefen.

Aber handelte es sich wirklich um nichtstaatliches Recht, welches die Überführung der Entlassung wegen Fehlverhaltens vom vertragsbasierten Kündigungsrecht in ein hierarchisch basiertes „Disziplinarrecht“ bewirkte? An sich schon, denn der Erlass von Betriebsordnungen lag in der Hand der Unternehmer und nicht des Staates. Eine Tür für staatliche Einflussnahme hatte das AOG jedoch offengelassen, und zwar durch die 1933 staatlich eingesetzten Treuhänder der Arbeit.  Diese waren vor allem geschaffen worden, um den Wegfall der Tarifpartner als überbetriebliche Koordinatoren der Arbeits- und Lohnbedingungen zu kompensieren, vor allem aber dienten sie als Transmissionsriemen nationalsozialistischer Vorstellungen (Eden 2020, S. 48 f.). Die Treuhänder hatten u. a. die Befugnis, Richtlinien für Betriebsordnungen zu erlassen (§ 32 Abs. 1 AOG). Derartige Richtlinien waren im Reichsarbeitsblatt, den amtlichen Mitteilungen des Reichsarbeitsministeriums, zu publizieren (§ 22 Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Ordnung vom 10. März 1934 [RGBl. I S. 187]). Mit guten Gründen könnte man sagen: „Quod non est in Reichsarbeitsblatt non est in mundo.“ D. h.: Finden sich für die Metallindustrie des sächsischen Wirtschaftsgebietes keine derartigen Richtlinien im Reichsarbeitsblatt, waren Sie auch nicht erlassen worden. Und in der Tat wird man im einschlägigen Teil VI des Reichsarbeitsblatts, in dem derartige Richtlinien abzudrucken waren, nicht fündig; überhaupt scheint man – legt man die Eintragungen im Reichsarbeitsblatt zugrunde – kaum Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht zu haben.

Damit wäre das Ergebnis klar: Die sächsischen Metallunternehmer haben sich koordiniert. Sie hatten für sich eine Regelung geschaffen, die ihnen einen erheblichen Flexibilitätsgewinn bei der Sanktionierung betrieblichen Fehlverhaltens verschaffte und die obendrein noch die Intentionen des nationalsozialistischen Gesetzgebers unterlief. Das war auch meine Schlussfolgerung, bevor ich ein erstes Manuskript dieses Textes am Johanna Wolf schickte, um mit ihr meine Befunde zu diskutieren. Diese machte mich jedoch auf einen Aktenfund aufmerksam, der das Ganze in einem anderen Lichte erscheinen ließ, nämlich auf ein Dokument aus dem Archivbestand der Gebler-Werke aus Radebeul (bei Dresden). Es handelt sich um eine Richtlinie des Treuhänders der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Sachsen. Sie enthält genau jene Passage, die Ausgangspunkt jenes Regelungsmusters ist, welches für viele sächsische Betriebsordnungen typisch war.

Aus: Richtlinien für die Aufstellung der Tarifordnungen des Treuhänders der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Sachsen vom 31. Mai 1934 (Sächsisches Staatsarchiv Dresden, 11621 Gebler-Werke AG, Radebeul, Signatur 105)

Dies musste zu einer Revision der ursprünglichen Annahme führen: Nicht die Unternehmer waren es, die sich bei der Ausweitung des Kündigungsrechts absprachen und im Ergebnis neues Recht schufen, sondern der Treuhänder der Arbeit, also eine staatliche Stelle, setzte die maßgeblichen Impulse – wenn auch unter klarer Verletzung prozeduraler Regeln, nämlich des Publikationsgebots (die Richtlinien wurden zwar in einigen Tageszeitungen veröffentlicht, nicht aber in dem dafür gesetzlich vorgesehenen amtlichen Publikationsorgan). Anstelle horizontaler Koordination wird jetzt vertikale, hierarchische Koordination sichtbar. Allerdings handelte es sich nicht um zwingende, unabweisbare hierarchische Koordination. Denn die Richtlinien waren kein zwingendes Recht. Sie begründeten für den Unternehmer weder privatrechtliche noch öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit (Hueck/Nipperdey/Dietz 1943 S. 417 f.). Sichtbar wird dies auch darin, dass einige Betriebe anderen Regelungsmustern folgten. Einen wesentlichen Mitwirkungsanteil der Unternehmen gab es also sehr wohl.

Welche verallgemeinernden Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Geschichte nun ziehen?

Zum einen: Die Untersuchung nichtstaatlicher Regelwerke, hier also der Betriebsordnungen, ermöglicht es uns, mehr „Recht“ zu sehen als durch den Blick in das staatliche Gesetzesrecht, hier also § 123 GewO und das AOG, sichtbar wird. Teilweise wird sogar erkennbar, dass Ordnungsvorstellungen staatlichen Rechts unterlaufen werden, hier durch die Einordnungen von Entlassungen in das Bußensystem. Was die Prozesse der Rechtsentstehung betrifft, weisen diese Quellen allerdings auch nur eine begrenzte Aussagekraft aus. Auf wessen Betreiben kommen Sie zustande, wer prägt die Inhalte? Auch hier gilt, dass der Blick in das staatliche Recht, hier die Regeln zur Publikation im Reichsarbeitsblatt, nur begrenzt weiterhilft. Denn erfasst nicht jenes Handeln, welches diese Rechtsvorschriften ignoriert, aber trotzdem Normativität hervorbringt – wie die Übernahme der Treuhändervorgaben in vielen Unternehmen zeigt. Staatliches Recht und nichtstaatliches Recht sind somit keine eigenständigen Regelungsebenen, die umfassend Aufschluss über den Gehalt von normativen Ordnungen geben. Dieser erschließt sich vielmehr erst über die Einbeziehung der Prozesse der Rechtsproduktion, einschließlich informaler und rechtswidriger Praktiken.

Ein herzlicher Dank gilt Johanna Wolf für wertvolle Hinweise und Vorschläge.

Literatur

Deutsch, Andreas/Keiser, Thorsten (2013), §§ 620-630: Beendigung des Dienstverhältnisses, in: Mathias Schmoeckel/Joachim Rückert/Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. III/1, Tübingen, S. 1271-1351

Dersch, Hermann (1934), Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, Berlin

Eden, Sören (2020), Die Verwaltung einer Utopie. Die Treuhänder der Arbeit zwischen Betriebs- und Volksgemeinschaft 1933-1945, Göttingen.

Hofmann, Günter (1938), Die Betriebsordnung. Rechtliche Grundlagen und praktische Ausgestaltung, Diss. rer. pol., Frankfurt am Main

Hueck, Alfred/Nipperdey (1928), Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 1, Mannheim/Berlin/Leipzig

Hueck, Alfred/Nipperdey, Hans Carl/Dietz, Rolf (1943), Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, 4. Aufl., München/Berlin

Koch, Rainer (1988), Das Kündigungsschutzrecht im Übergang vom Betriebsrätegesetz zum Arbeitsordnungsgesetz als Instrument faschistischer Herrschaftssicherung, Diss. jur., Bremen

Kranig, Andreas (1983), Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart

Mansfeld, Werner (1943), Die Ordnung der nationalen Arbeit, 2. Aufl., Berlin

Thiele, Michaela (2000), Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (1927-1945), Frankfurt am Main


Der vorliegende Text ist eine um den Hinweis auf § 124a GewO erweiterte Fassung des unter https://doi.org/10.17176/20240130-171536-0 veröffentlichten Beitrags.


Cite as: Collin, Peter: Nichtstaatliches Kündigungsrecht im Nationalsozialismus?, legalhistoryinsights.com, 30.01.2024, https://doi.org/10.17176/20240130-171536-0

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