„Wir sind alle Hegelianer!“ Eine persönliche Betrachtung zu Albrecht Koschorkes Buch „Hegel und wir”

Wir sind alle Hegelianer!

Mit diesem vielleicht etwas plakativen Satz lässt sich eine zentrale Aussage des Buches „Hegel und wir“ des Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke (geboren 1958) zusammenfassen. Denn wir denken immer noch, so der Autor, in von Hegel geprägten Kollektivsingularen. Dazu zählen für uns als Forschende auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte so zentrale Begriffe wie etwa „Geschichte“ oder „Fortschritt“. Wir sind also, so der Autor, alle Hegelianer, selbst wenn wir seine Geschichtsphilosophie als überholt betrachten.  Koschorke bietet eine Herangehensweise, diese Begrifflichkeiten und unsere Perspektiven zu reflektieren. Zumindest half es mir für mein Dissertationsprojekt zur Justizgeschichte in zwei italienischen Territorien des 18. Jahrhunderts (das Königreich Neapel-Sizilien im Süden der italienischen Halbinsel und das Herzogtum Mailand im Norden). Denn der Großteil der bisherigen Forschung in diesem Feld, wie auch ich selbst, hantiert mit „großen“ Begriffen wie etwa „Staat“, „Staatswerdung“, „Fortschritt“, „Aufklärung“.

Ich möchte in diesem Blogbeitrag Koschorkes Buch vorstellen.  Ich will darstellen, wie der Autor mithilfe der Hegelschen Geschichtsphilosophie einen historischen Prozess erklärt und zugleich die Grenzen des Hegelschen Zugangs aufzeigt.

Der Autor

Zunächst möchte ich auf den Autor eingehen:

Albrecht Koschorke wurde 1958 in Kastellaun im Hunsrück geboren und studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft und Ethnologie in München und Paris. Seit April 2001 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz.  2003 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und 2013 hielt er in Frankfurt die Adorno-Vorlesung, aus der das vorliegende Buch entstand. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen im Gebiet der Kulturtheorie, Kultursemiotik, Erzähltheorie und der Deutschen Literatur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.

Das Buch

Der Titel spiegelt seine Struktur: „Hegel und wir“. Der Titel besteht aus zwei Teilen und ebenso das Buch.

Im ersten Teil „Hegel“ – auf den ich in hier nur kurz eingehen werde – stellt der Autor die Geschichtsphilosophie Hegels vor. Dabei geht Koschorke auf eine Vielzahl von Merkmalen Hegelscher Geschichtsphilosophie ein. So stellt er etwa fest, dass Hegels Geistesgeschichte aus verschiedenen historiographischen Erzähltraditionen schöpft und diese in einer Synthese zusammenführt. Hegels Geschichtsbild setzt sich aus vielen Komponenten zusammen, die einerseits bereits in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts angelegt sind, andererseits auf Elemente kirchlicher Sakralgeschichte zurückgreifen und schließlich zu einer „Sakralisierung der weltlichen Geschichte“ führen.

Albrecht Koschorke, Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013, Suhrkamp Verlag, 2015.

Im zweiten Teil „Wir“ wendet der Autor die Geschichtsphilosophie Hegels auf zwei historische Prozesse an, Preußen um die Wende des 19. Jahrhunderts und Europa um die Wende zum 21. Jahrhunderts. Zwischen beiden Epochen macht der Autor Analogien in der Struktur und den Problematiken aus, insbesondere die Frage, welches „geistige Element das zu schaffende Gemeinwesen zusammenhält und wie, damit verbunden, seine verschiedenen territorialen Bestandteile administrativ integriert werden können“ (Koschorke, S. 23).

Hier ergibt sich für ihn der zentrale Unterschied beider historischer Momente und daraus die Frage, warum dieser Bedarf nach einem starken Gründungsnarrativ in Preußen (und später dann dem Deutschen Reich) befriedigt wurde und im Falle Europas nicht. Daher interessiert ihn an Hegels Geschichtsphilosophie vor allem ihre kollektive Sinnstiftung.

Preußen zur Wende des 19. Jahrhunderts

Zunächst skizziert Koschorke die Lage des Königreiches Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts, im Kontext des Lebens und Wirkens Hegels. Er beschreibt dieses Territorium nach der Niederlage von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 im Zuge des Vierten Koalitionskrieges gegen Napoleon und des daraus folgenden politischen und gesellschaftlichen Kollapses. Zugleich aber kam es einige Jahre später im Zuge des Wiener Kongresses zu einer beträchtlichen Erweiterung Preußens, gerade nach Westen mit dem Zugewinn der Rheinprovinz. Das hat zur Folge, dass Preußen diese neuen und alten Provinzen zu einem Gemeinwesen integrieren musste. Preußen war zunächst ein heterogenes politische Gebilde, mit geringer Tiefenwirkung der zentralen Bürokratie in das Land hinein – „sie endete sprichwörtlich beim Landrat, der zwar staatliche Beamter war, sich aber aus dem kreisansässigen Adel rekrutierte und dessen Belange vertrat“ (S. 172). Es gab kaum ein gemeinsames Identitätsgefühl.

Deshalb war es den reformwilligen Verwaltungseliten nicht möglich, ihre Reformpläne schnurstracks zu verwirklichen. Sie waren vielmehr auf die Akzeptanz und Kooperation verschiedener gesellschaftlicher Kräfte angewiesen und mussten Koalitionen eingehen und  taktische Bündnisse schließen, was dazu führte, dass das ursprüngliche Programm verändert oder verwässert wurde (S. 18). „Reformen vom Zentrum her mit dem Ziel, flächenhaft die Vereinheitlichung der politischen, rechtlichen und ökonomischen Verhältnisse durchzusetzen, verstrickten sich schnell in der unübersichtlichen Gegenwelt lokaler Rücksichten und Komplikationen – das klassische Mehrebenenproblem“ (S. 174). In einem solchen Machtkontext kommt es, so der Autor, neben den neuen Ideen ganz zentral auf die Geschicke ihrer Implementierung an, die letztlich den Lauf der Geschichte bestimmen (S.19). Es scheint ganz selbstverständlich, aber war für mich doch eine ganz wichtige Einsicht, dass ich eben zwei Phänomene erforsche: sowohl Ideen als auch darauf bezogene gesellschaftliche Prozesse.

Dabei ist es für das Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse wichtig, dem Geist der Reformen eine erhebliche und autonome – daher von einzelnen Personen und deren Plänen unabhängige – Bedeutung zuzuerkennen. Dieser Geist gibt allen Beteiligten nötige Schwungkraft und einen „höheren Sinn“.

Es steht außer Frage, dass Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum das war, was Hegel als Inbegriff eines Staatsorganismus bezeichnete, nämlich eine lebendige Totalität, in der sich alle Partikularitäten auflösen (S.175). Dieser Organismus war erst noch zu erschaffen und verwirklichte sich dann in der Form der preußisch-deutschen Apotheose des Staates im ausgehenden 19. Jahrhundert, dessen wichtigster Ideator Hegel war.

Das alles ist für meine Arbeit hochrelevant. Denn die Souveräne der italienischen Staaten im 18. Jahrhundert befanden in einer ähnlichen Situation wie der preußische König im 19. Jahrhundert. In meinem Fall wollten die Territorialfürsten Justizreformen durchführen, die zu einer Vereinheitlichung und „Verstaatlichung“ der Rechtsprechung führen sollten. Wie im Falle Preußens waren diese Reformen jedoch nur mithilfe und zugleich gegen die lokalen Eliten durchzusetzen, was zu einem Machtkampf mit diesen traditionell geprägten und bewahrenden Kräften führte, in dessen Folge die Territorialherrscher zahlreiche Reformen abändern oder gänzlich zurücknehmen mussten.

Was eint Europa?

Nun zum Vergleich mit Europa zur Wende des 21. Jahrhunderts. Viele Seiten, beispielsweise aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, sehen es regelmäßig als eine große Schwäche der Europäischen Union an, dass sie nicht von einem europaweit geteilten Narrativ getragen wird. Ihr wird ein Erzähldefizit konstatiert. In einer Welt, die Kategorien wie plurale Entwicklungen, länderspezifische Pfadabhängigkeiten und multiple modernities charakterisieren, scheint es keinen Platz für mehr für Hegelianische Erzählungen zu geben.  Jedoch, so fragt sich Koschorke, könnte die Rede vom Ende der Großen Erzählungen selbst eine große Erzählung sein, noch dazu eine eurozentrische Großen Erzählung (S.30)? Für ihn scheint es immer noch eine große Nachfrage nach politischen Mythen oder Narrativen zu geben (S. 31).

Gleichwohl weisen die beiden historischen Epochen nach Koschorkes Ansicht Ähnlichkeiten auf:  So sind für ihn einige zentrale Verhältnisse, denen Hegel im kleineren preußischen Maßstab „philosophische Weihe“ (S. 170) verleiht, durchaus mit der aktuellen europäischen Lage vergleichbar:

  • Beides sind Projekte von Verwaltungseliten, die ein Allgemeinwohl mittels „Reformen von oben“ verfolgen (S. 170).
  • Die Ausgangsbedingungen sind ähnlich: beide ziehen ihre Legitimation aus einer kriegerischen Katastrophe (hier der Zweite Weltkrieg, dort die Napoleonischen Kriege).
  • In beiden Fällen gehen die reformatorischen Bestrebungen aus einem kriegsbedingten Zusammenbruch der alten Ordnung hervor.

Es handelte sich bei Preußen an der Wende zum 19. Jahrhundert – entgegen der Darstellung Hegels von Preußen als Inbegriff eines Staatsorganismus – um ein kaum weniger heterogenes Gebilde als das heutige Europa.

Doch was ist Europa? Obwohl historische Narrative nicht unbedingt en détail der historischen Realität entsprechen müssen, bedarf es laut Koschorke  eines geographischen, kulturellen und historischen Kerns, an dem sich das jeweilige Narrativ bilden kann. Ein solcher Kern ist für Europa, so der Autor, schwer, ja unmöglich festzustellen (S. 148). Weder etymologisch, noch geographisch, religiös oder kulturell lasse sich ein europaweit überzeugender Kern Europas identifizieren. Die Europäische Union sei zu klein für ein kosmopolitisches Großnarrativ wie die Globalisierung, aber zu groß für ein nationalstaatliches Narrativ, dessen Überwindung Teil des Kerns der europäischen Idee seit 1945 ist. Europa verfüge über keine gemeinsamen Helden, keine gemeinsamen Tragödien, kein gemeinsames Identifikationsmoment wie etwa eine heroische Gründung (S. 167). Es gibt für den Autor keine ausreichenden identitätsstiftenden Ressourcen, die ein kraftvolles politisches Narrativ tragen könnten.

So kommt Koschorke zu der Frage, warum es Europa nicht gelingt, die kontrafaktische Energie für ein gemeinsames Europanarrativ aufzubringen, wie sie die nationalstaatlichen Ideensysteme des 19. Jahrhunderts fanden. Diese erzählerische Unsicherheit wirke sich, so Koschorke, auch auf das Bild aus, das die Union von ihrer Vergangenheit habe. Mit dem Verlust der weltpolitischen Dominanz Europas gehe ein Rückbau des europäischen Universalismus einher. Das mache es nötig, auf eine Darstellung vergangener Epochen im globalen Kontext ohne die Verwendung europäischer Periodisierungen hinzuarbeiten (S. 208). Die Annahme einer Mehrzahl durch die jeweilige Kultur bedingter Entwicklungspfade, entsprechend des Konzeptes der multiples modernities, ersetzt dabei eine eurozentrierte, aber weltumfassende Erzählung hegelscher Prägung. Jedoch sei eine Weltgeschichtsschreibung ohne Europa und seinen spezifischen Weg nicht in Sicht (S. 208/209). An diesem Punkt setzen Debatten und Forschungsarbeiten an, die uns an diesem Institut, etwa in der Abteilung „Historische Normativitätsregime“, besonders beschäftigen. 

Was aber dann?

Koschorkes Antwort lautet, dass die wahrscheinlichen kulturellen Folgekomplikationen/Konflikte durch die Forcierung einer europäischen Identität deren Vorteile im politischen Geschäft deutlich übersteigen würden (S. 189). Der Versuch der Oktroyierung eines klar umrissenen, abgrenzungsstarken und kämpferischen Europas im Sinne Hegelianischer Großnarrative würde leicht scheitern. Aber der eigentliche Clou seines Buches lautet: die Europäische Union braucht ein solches Narrativ überhaupt nicht, um funktionsfähig zu sein. Laut Koschorke ist nämlich die Systemintegration in der Europäischen Union so hoch, dass einer ideologischen Integration durch eine Art Narrativ nicht bedarf.

Natürlich kann und sollte diese Buch und die darin vertretenén Thesen kritisiert werden. So habe ich im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung „Historische Normativitätsregime“ lange diskutiert, ob der von Koschorke angebrachte Vergleich von Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts und der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt tragfähig ist. Häufig kam der Einwand, dass die EU eher viele Parallelen zu den Imperien der Frühen Neuzeit aufweise, etwa zum Heiligen Römischen Deutscher Nation.

Außerdem bleibt die Frage, ob die Europäische Union nicht doch ein gemeinsames Narrativ habe, das von Koschorke übersehen werde. Konkret sei dieses in den Werten der Union in Art. 2 des EU-Vertrages zu finden: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“

Nichtsdestotrotz war die Lektüre dieses Buches mit einem großen Erkenntnisgewinn verbunden. Denn obwohl vieles aus historischer bzw. rechtshistorischer Sicht fragwürdig und problematisch erscheint, so zeigt der Literaturwissenschaftler Koschorke eben doch, wie man in Reflexion auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie historische Prozesse erkenntnisträchtig darstellen und erklären kann. Das ist von Relevanz für meine Dissertation, die ebenfalls einerseits mit einer Theorie historische Entwicklungen und Veränderungen besser verstehen will, diese Theorie andererseits zugleich einem „Praxistest“ unterziehen will. Es geht also darum, wie Theorie und Geschichtsschreibung zusammengeführt werden können.


Cite as: Bogdandy, Luca von: „Wir sind alle Hegelianer!“: Eine persönliche Betrachtung zu Albrecht Koschorkes Buch „Hegel und wir”, legalhistoryinsights.com, 15.02.2022, https://doi.org/10.17176/20220215-174447-0

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