Kanonisten des Spätmittelalters und der Frühneuzeit waren versiert in der intensiven Arbeit mit Texten und hatten ein starkes Interesse an Handschriften und Drucken für sie einschlägiger Werke. Für Außenstehende waren diese allerdings kaum verständlich, und das schon aufgrund der zahlreichen Abkürzungen, die in Texten zum kanonischen und römischen Recht vorkamen. Um sie zu entschlüsseln und sachgerecht verwenden zu können, brauchten Studienanfänger besondere Hilfsmittel. Mit den Auflösungen der gebräuchlichen Abkürzungen boten diese zugleich einen Überblick über die zentralen Quellen und die wichtigste Literatur.
Vergessenes Wissen über kirchliche Normativität
Ein später Vertreter dieser Literaturgattung ist der an der Universität Innsbruck entstandene Modus allegandi von 1708 (Modus allegandi 1708), der seinem Inhalt nach in drei Teile zerfällt. Im Vergleich zu älteren Werken hat sich in seinen römischrechtlichen Passagen, die den ersten Teil bilden, nicht allzu viel verändert (ebd., S. 1-11), während die kanonistischen Partien (ebd., S. 11-33), d. h. der zweite Teil, gerade mit Blick auf das nachtridentinische ius novissimum deutlich angewachsen sind und das Herzstück des Werkes bilden. Darauf folgt, und das ist neu, noch ein großer Abschnitt zu theologischen Abkürzungen, die sich vor allem auf die Namen und Werke wichtiger doctores theologi beziehen (ebd. S. 33-46). Dieser dritte Teil erklärt sich aus dem besonderen Zweck des Innsbrucker Modus allegandi, der nicht nur den Studenten der beiden juristischen Disziplinen, sondern auch der Theologie, und zwar insbesondere der Moraltheologie dienlich sein soll (ebd. S. 33). Durch die Abfolge der behandelten Materien ergibt sich eine Verklammerung des zweiten und dritten Teils, die je nach fachlicher Perspektive als Vorspann zur Theologie bzw. als Anhang zur Kanonistik gelesen werden können. Die Nähe der beiden Fächer, die sich im Aufbau spiegelt, findet auf inhaltlicher Ebene eine Entsprechung in der Vorrede [ebd. [S. II]]. In ihrem letzten Absatz werden einerseits die Unterschiede zwischen ius civile und ius canonicum und andererseits die Gemeinsamkeiten zwischen der Theologie und dem kanonischen Recht hervorgehoben, von dem es in Anlehnung an Giacomo Pignatelli (1625-1698) heißt, es sei partialis quaedam theologia, quae practica, et moralis vocatur.

Aus der engen Verbindung der beiden Disziplinen und ihren zahlreichen Überschneidungen ergibt sich eine beträchtliche Schnittmenge von Titeln, die im zweiten und dritten Teil des Werkes erscheinen und gleichermaßen für Kanonisten und Theologien relevant waren. Quellen und Literatur des ius canonicum und theologische Schriften, die normative Fragen z. B. mit Blick auf Moral und Sakramente behandeln, bilden so eine bemerkenswerte Gemengelage. Zusammengenommen werden in den aufgeführten Titeln zentrale Textgrundlagen eines vielschichtigen Kosmos von Normen und Normativität der katholischen Kirche in der Vormoderne sichtbar. In der kirchenrechtsgeschichtlichen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts blieben viele dieser Werke, und zwar vor allem die theologischen, aber auch manche kanonistischen Titel, weitgehend unberücksichtigt. Erst in den letzten Jahrzehnten werden sie allmählich zur Kenntnis genommen. Diese Entwickelung korreliert auf methodischer Ebene mit einer Weitung des rechtshistorischen Blicks für die vielfältigen Formen von Normativität, für die Thomas Duve mit den Begriffen der Multinormativität und später dann des Normativitätswissens wichtige Begründungen und Werkzeuge geliefert hat.
Im vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit sich dieses vergessene normative Wissen in der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Gestalt frühneuzeitlicher Drucke abgebildet hat und abbilden lässt. Es geht also um die Präsenz der entsprechenden Werke und um ihren Inhalt, der sie für eine rechtshistorische Fachbibliothek interessant machen kann. Im Rahmen dieser Fragestellung rückt ein Teil der Institutsbibliothek näher in den Blick, und zwar jener Bestand an Drucken aus der Zeit vor 1800, in denen es um Formen von Normativität geht, die im Zusammenhang mit dem Christentum im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen stehen. Der mit Abstand größte Teil der betreffenden Titel hat die Signatur „Kan“. Im Folgenden werde ich auf einzelne Aspekte seiner Entwicklung eingehen und dabei auch auf eigene Erfahrungen beim Ausbau der Bestände zurückgreifen.
Der Beitrag zerfällt in zwei Teile. Am Anfang steht ein Blick auf die Titel der Bibliothekssignatur „Kan“, wie sie sich mir 2009 darstellten, auf mögliche Kriterien bei der Anschaffung der hier interessierenden alten Drucke in den 1960er und 1970er Jahren sowie die Bestandsentwicklung seit 2009. Im zweiten Teil geht es dann um die Konsequenzen, die sich in meinen Augen aus erkennbaren Defiziten ergaben, um einige Ziele, die ich mit der Vorlage antiquarischer Werke zur Anschaffung verfolgt habe, und um einzelne Gruppen von Werken, die in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse waren bzw. sind.
Alte Drucke der Institutsbibliothek mit der Signatur „Kan“ um 2009
Zunächst also zu den Ausgangspunkten. Als ich im September 2009 im Rahmen des Aufbaus der Abteilung II (heute: Historische Normativitätsregime) an das damalige Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt kam, fiel mein Blick als Kanonist vor allem auf die Signatur „Kan“. Ins Auge sprangen mir besonders die zahlreichen Titel aus dem 16.-18. Jahrhundert. Bekannte spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kanonisten waren in diesem Teilbestand gut vertreten. Manchmal war ein Titel sogar in unterschiedlichen Auflagen präsent. Allerdings deckten die vorhandenen Werke weder das gesamte normative Œuvre der Verfasser noch die Kanonistik insgesamt ab. Schlechter vertreten oder sogar weitgehend unberücksichtigt geblieben waren Materien, mit denen man aus Sicht des weltlichen Rechts wenig anfangen konnte, wie etwa die Sakramente mit Ausnahme der Ehe, die Kirchenämter, das Ordensrecht und die kirchliche Lehrgewalt. Noch schlechter bestellt war es um Gegenstände, in denen Kanonistik und Theologie ineinandergriffen wie z. B. das forum internum und die Seelsorge. Theologische Literatur (z. B. zur Ekklesiologie) war im Bereich der alten Drucke kaum präsent.

Wie erklärt sich der Befund? Eine erste Antwort ergibt sich aus der Institutsgeschichte. Die großen Anschaffungen frühneuzeitlicher Drucke erfolgten in den 1960er und 1970er Jahren. Sie zielten insbesondere auf das ius commune als Forschungsschwerpunkt des Gründungsdirektors Helmut Coing (1912-2000) ab. Sein Interesse galt besonders der Geschichte der Legistik, näherhin dem römischen Recht in der Vormoderne. Demgegenüber kam der kirchlichen Rechtsgeschichte nur eine untergeordnete Rolle zu. Abgesehen von der eigenen Schwerpunktsetzung spielte dabei sicher auch die Überlegung eine Rolle, dass die historische Erforschung der Kanonistik von anderer Seite in Angriff genommen worden war, und zwar vor allem von dem in den USA tätigen Stephan Kuttner (1907-1996) und seinem seit 1962 mit Coings Hilfe maßgeblich von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierten Institute of Research and Study in Medieval Canon Law (Hetzenecker 2007, S. 218 f.).
Allerdings dürften sich die Auffälligkeiten des Buchbestands auch aus einer besonderen Wahrnehmung des kanonischen Rechts bzw. der Kanonistik, gleichsam ab extra erklären. Zumindest werden manche der blinden Flecken begreiflich, wenn man sie als Folgen einer Betrachtung versteht, die durch externe Maßstäbe eingeschränkt war. Zu denken wäre etwa auf fachlicher Ebene an die Rolle des weltlichen Rechts bzw. seiner Wissenschaft oder in chronologischer Hinsicht an säkulare Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Moderne. Wendete man solche Kriterien wie z. B. die Trennung von Recht und Moral auf die vormoderne Kirche und ihre Normen an, konnte potentiell fast alles, was nicht in diesem Sinne „rechtlich relevant“ erschien, in der „Kan“-Signatur unter den Tisch fallen.
Doch ganz gleich, ob nun vor allem institutionelle oder eher konzeptionelle Faktoren zu den erwähnten Lücken geführt hatten, es lag in der Zeit nach 2009 nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus praktischen Gründen nahe, eine gewisse Ausgewogenheit und Vollständigkeit im Bereich der alten „Kan“-Drucke anzustreben, die für eine Reihe von Forschungsprojekten vor allem in der Abteilung Historische Normativitätsregime von zentraler Bedeutung waren und sind. Tatsächlich zeigt die quantitative Entwicklung der „Kan“-Bestände, dass es zu einem deutlichen Ausbau gekommen ist. Umfasste die „Kan“-Signatur insgesamt Ende 2009 knapp 2000 Titel aus der Zeit vor 1800, so sind es gegenwärtig (Mai 2025) nicht ganz 4800. Zu dieser Vergrößerung des Bestandes haben eine ganze Reihe von Personen aus unterschiedlichen Forschungsgebieten durch Anschaffungsvorschläge beigetragen. Darauf deutet schon der Umstand hin, dass abgesehen von lateinischen Werken auch volkssprachige Darstellungen insbesondere auf Spanisch und Portugiesisch einen beträchtlichen Zuwachs erfahren haben.
Ergänzung und Ausbau des Buchbestandes nach 2009
Die Frage liegt nahe, und das leitet zum zweiten Teil dieses Beitrags über, wie und wo angesetzt wurde, um Lücken innerhalb der „Kan“-Signatur zu schließen. Da der Schwerpunkt meiner Erfahrungen bei den lateinischen Werken liegt, kann es hier nur um einen Teilaspekt eines größeren Bildes und umfassenderer Anstrengungen um eine Vervollständigung und Erweiterung der betreffenden Bestände gehen. Vorab möchte ich allerdings auf drei Rahmenbedingungen hinweisen, die für meine Bemühungen von besonderer praktischer Bedeutung waren.
Entscheidend war (und ist) zunächst die gute Zusammenarbeit mit dem Bibliotheksteam des Instituts, insbesondere mit Frau Dr. Amedick und ihrem Nachfolger Herrn Hillesheim. Wichtig waren darüber hinaus mit Blick auf das Angebot an antiquarischen Büchern besonders zwei Faktoren. Der eine bestand in der Existenz von Metasuchmaschinen, mit deren Hilfe man sich schnell einen Überblick über das weltweite Angebot in Hinblick auf ein bestimmtes antiquarisches Werk verschaffen kann. Eine entscheidende Rolle spielt darüber hinaus eine besondere Entwicklung auf dem Markt für alte Drucke. Spätestens seit der Jahrtausendwende kommen vielerorts aufgrund eines jahrzehntelangen Nachwuchsmangels an Priestern und Ordensleuten und der daraus resultierenden Schließung zahlreicher Seminare und Klöster große alte Buchbestände kirchlicher Provenienz auf den Markt. Das erleichterte einen gezielten Ausbau im Bereich der „Kan“-Signaturen erheblich.

In welche Richtungen gingen nun meine Anschaffungsvorschläge? Auf einige wichtige Bereiche sei hier kurz hingewiesen. In den ersten Jahren waren es vor allem Sekundärliteraturtitel des 19. und 20. Jahrhunderts, die ich zur Vorlage brachte, daneben aber auch zentrale Hilfsmittel, mit denen Kanonisten und Theologen in der Vormoderne und der Moderne arbeiteten (z. B. Indices, Wörterbücher und Lexika). Abgesehen von solchen ihrer Natur nach eher punktuellen Ergänzungen lag es später nahe, Anschaffungsvorschläge zu solchen Aspekten kirchlicher Normativität zu machen, die bis dahin nur begrenzt oder kaum berücksichtigt worden waren. Dazu zählte etwa Literatur zu Konzilien (z. B. Konzilssummen), dem Sakramenten- und Ordensrecht (z. B. Regelkommentare), dem Verhältnis von Kirche und Staat, wie es sich aus Sicht der Kirche darstellte, und dem forum internum.
Noch deutlich größere Lücken als in der Kanonistik bestanden im Bereich der normativen Aspekten gewidmeten theologischen Literatur. Sie zu füllen bereitete schon auf heuristischer Ebene einige Probleme, denn die Frage, welche Verfasser und Werke abgesehen von einigen wenigen großen Namen überhaupt von Relevanz waren, ließ sich aufgrund der schlechteren Forschungslage nur mit einigem Aufwand beantworten. Der Sache nach ging es nicht nur um Fachliteratur zu einzelnen Teildisziplinen wie der Moraltheologie, sondern auch um umfassende Darstellungen zur Theologie allgemein, die mitunter auf hunderten von Seiten normative Fragen (z. B. De iustitia et iure) abhandeln (Decock / Birr 2016).
Erstes Beispiel: Kommentierungstraditionen und Kommentare
Abschließend möchte ich ausgehend von kleinen Quellenbeobachtungen auf zwei Anschaffungsbereiche etwas näher eingehen. Zum ersten führt eine gelehrte Legende, nach der Gratian (gest. Mitte des 12. Jahrhunderts), der „Vater der Kirchenrechtswissenschaft“, zwei Brüder hatte, und zwar Petrus Lombardus (um 1095-1160), einen der Neubegründer der scholastischen Theologie, und Petrus Comestor, einen namhaften Vertreter biblischer Exegese und bibelgestützter Universalhistoriographie (Clark 2005; Silano 2010, S. VII f.). Man könnte die Konstruktion der glanzvollen Verwandtschaft als Versuch deuten, mit den drei Personen auch ihre Fächer in einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang einzuordnen. Das wäre aus Sicht des Kirchenrechts schon deshalb von Interesse, weil für gewöhnlich der gemeinsame Bologneser Ursprung von Legistik und Kanonistik betont wird. Doch geht es bei der Legende wohl (noch) um etwas anderes. Jeder der drei angeblichen Brüder hat ein Hauptwerk (Decretum Gratiani, Sententiae und Historia scholastica), das innerhalb der jeweiligen Disziplin für einen neuen Umgang mit zentralen Texten christlich-kirchlicher Glaubens- und Rechtstradition steht und im Falle des Dekrets und der Sentenzen die Grundlage einer jahrhundertelangen Kommentierungstradition bildete.
Die so erkennbare Verbindung läßt sich teilweise auch in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes summista zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert fassen (Du Cange 1886, S. 654 s.v. summa 2, S. 655 s.v summistae). Der Ausdruck kann abgesehen von bestimmten Beamten der Cancellaria Apostolica vor allem zwei- bzw. dreierlei bezeichnen: den Verfasser einer Beichtsumme oder allgemein einen Autor des forum internum (casuista, casista) und den Verfasser von Summen allgemein und im Besonderen von Summen oder anderen Texten (z. B. Kommentaren) zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (sententiarius) oder zur Summa theologiae des Thomas von Aquin (thomista).

Die beiden Beobachtungen lenken den Blick auf einen Anschaffungsbereich, dessen Titel über weite Strecken durch intensive Kommentierungsbemühungen geprägt sind, in deren Gefolge es auch zu einer eingehenden Reflexion normativer Fragen kam. Gegenstand einer solchen Beschäftigung waren vor allem vier Bücher, die für Theologen der Vormoderne von zentraler Bedeutung waren, nämlich die Bibel, die zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert oft erläuterten Sentenzen des Lombarden, die seit dem Konzil von Trient ebenfalls häufig kommentierte Summa theologiae des Thomas von Aquin (1224-1274) und die nicht nur von Angehörigen der franziskanischen Ordensfamilie auch in der Neuzeit oft behandelten Sentenzenkommentare des Duns Scotus (um 1265/66-1308). In jeder der sich so ergebenden Literaturgruppen finden sich zahlreiche Schriften, deren Autoren im Zuge von Text- und Begriffsanalysen zu Ergebnissen gelangten, die auch für die Kanonistik von Bedeutung waren und von Kanonisten auf die eine oder andere Weise rezipiert wurden. Solche Werke anschaffen zu lassen war nicht nur mit einigem Aufwand verbunden, sondern erforderte auch einen langen Atem, denn im Gegensatz zu reinen Lehrbüchern waren viele dieser Titel nicht oft gedruckt worden.
Zweites Beispiel: Kanonisten und ihre nichtkanonistischen Werke
Während der gerade skizzierte Anschaffungsbereich auf Werke abzielt, die in großen Traditionen der Reflexion und Kommentierung zentraler nichtkanonistischer Grundtexte stehen, knüpft der zweite an die Person des Kanonisten an. Dieser zeichnet sich, wenn man einem berühmten Vertreter des Fachs Glauben schenken darf, durch eine Besonderheit aus, die ihn vom weltlichen Juristen unterscheidet. Dem auch unter dem Namen Hostiensis bekannten Dekretalisten Henricus de Segusio (um 1200-1271) zufolge verfügen gute Kanonisten über ein Gewissen, das er als vernunftgemäß (rationabilis) charakterisiert, während das Gewissen der meisten Legisten in seinen Augen u. a. tierhaft (bestialis) und den Sinnen verhaftet (sensualis) ist (Henricus de Segusio 1537, lib. IV, De clandestina desponsatione n. 4, fol. 201r; Fedele (1940); Carbasse (1999), S. 81 f.). Die Bemerkung lässt an einen polemischen Seitenhieb denken. Tatsächlich hat Hostiensis jedoch eine Eigentümlichkeit des kanonischen Rechts und seiner Experten im Blick. Die meisten Legisten halten sich ihm zufolge nur an den rigor des menschlichen Rechts und entscheiden dann, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob sie dadurch eine Sünde begehen, während gute Kanonisten in ihren Entscheidungen diese Frage stets vor Augen haben. Im Vergleich zur Mehrzahl der weltlichen Juristen, die nur Augen für die lex humana haben, blicken gute Kirchenrechtler so gesehen dank ihrer Augen des Gewissens weiter. Aus der Sorge um das Seelenheil ergab sich so für das ius canonicum und seine Fachleute eine besondere Ausrichtung auf die Gebote Gottes, denen auch in Bezug auf das menschliche Recht Rechnung zu tragen war. Ähnliche Zielvorstellungen finden sich mit Blick auf das ius canonicum bei Nicolaus de Tudeschis (1386-1445) (Abbas Panormitanus 1547, Prooem. n. 16, fol. 5vb–6ra) und Anaklet Reiffenstuel (1642-1703) (Reiffenstuel 1729 Prooem §. III. n. 40, S. 8) in Gestalt der coelestis amicitia, die der civilis amicitia des ius civile gegenübergestellt wird. Mit der hier erkennbaren eigentümlichen Perspektive des Kanonisten zeichnet sich zugleich ein Horizont normativen Wissens ab, der weit über die eigene Disziplin hinausreichte.

Die Vorstellung eines nicht bloß auf den Buchstaben des menschlichen Gesetzes, sondern immer auch auf die übernatürliche Wahrheit gerichteten Blickes der Kanonisten führt zu einer besonderen Gruppe von Werken, die ich, wenn auch nur in Einzelfällen, zur Anschaffung vorgeschlagen habe. Ihr Tertium comparationis liegt in der Person des Verfassers und hängt mit dem gerade angedeuteten weiterreichenden normativen Blick spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kanonisten zusammen. Im Gegensatz zu den Legisten verfassten viele von ihnen nicht nur Schriften, in denen es um Fragen des Rechts, d. h. in diesem Fall des ius canonicum, geht, sondern auch Darstellungen zu anderen Disziplinen, insbesondere zu Teilgebieten der Theologie. Solche Werke enthalten oft nicht nur kirchenrechtlich bedeutsame Informationen, sondern auch formale oder inhaltliche Bezugspunkte zu den Canonistica ihrer Verfasser und lassen so zumindest ansatzweise erkennen, wie der fächerübergreifende Normenhorizont einzelner Kirchenrechtler konstruiert war.
Ausblick
Mit dem Blick auf die literarischen Aktivitäten der Kanonisten jenseits ihrer Disziplin ist dieser kleine Rundgang durch ältere und neuere Anschaffungen vor 1800 erschienener Bücher mit der Signatur „Kan“ an sein Ende gelangt. Das Wissen um die vielgestaltigen Sollensordnungen der katholischen Kirche des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, die in alten Drucken ihren Niederschlag gefunden haben, unterlag schon in der Vormoderne zahlreichen Veränderungen und ist seit dem 18. Jahrhundert immer weiter zusammengeschmolzen – mit weitreichenden Folgen auch für die (rechts)historische Forschung. Um diese „Katastrophen des Vergessens“ (Seckel 1921, S. 11, 18) zu überwinden, bedarf es nicht nur einer neuen Wahrnehmung des geschichtlichen Phänomens, sondern auch der Rekonstruktion des entsprechenden Wissens und seiner Ordnung in den Bibliotheken. Wenn das eine wie das andere gelingt, vermitteln neu erworbene alte Drucke nicht nur einen tieferen Einblick in die Normwelten der Vormoderne, sondern ermöglichen auch einen neuen Blick auf die Rechtsgeschichte – in Frankfurt und anderenorts.
Quellen und Literatur
Abbas Panormitanus (Nicolaus de Tudeschis) (1547), Prima interpretationum in primum decretalium librum pars, Lyon
Henricus de Segusio Cardinalis Hostiensis (1537), Summa una cum summariis et adnotationibus Nicolai Superantii, Lyon (Nachdruck: Aalen 1962)
Modus allegandi textus utriusque juris, necnon doctores theologos, in gratiam tyronum studii juridico-theologici Oenipontani in lucem editus M.DCC.VIII. cum facultate superiorum, Augsburg [1708]
Reiffenstuel, Anacletus (1729), Jus canonicum universum, Bd. 1, Ingolstadt
Carbasse, Jean-Marie (1999), Le juge entre la loi et la justice: approches médiévales, in: Ders., Laurence Depambour-Tarride (Hg.), La conscience du juge dans la tradition juridique européenne (Droit et justice), Paris, S. 67-94
Clark, Mark J. (2005), Peter Comestor and Peter Lombard: Brothers in Deed, in: Traditio 60, S. 85-142
Decock, Wim, Christiane Birr (2016), Recht und Moral in der Scholastik der Frühen Neuzeit 1500-1750 (Methodica 1), Berlin / Boston
Du Cange (1886), Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 7, Niort (Nachdruck: Graz 1954)
Fedele, Pio (1940), Conscientia angelica, bestialis, rationabilis, in: Archivio di diritto ecclesiastico 2, S. 412-416
Hetzenecker, Andreas (2007), Stephan Kuttner in Amerika. Grundlegung der modernen historisch-kanonistischen Forschung (Schriften zur Rechtsgeschichte 133), Berlin
Seckel, Emil (1921), Das römische Recht und seine Wissenschaft im Wandel der Jahrhunderte. Rede zum Antritt des Rektorates der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin gehalten in der Aula am 15.10.1920, Berlin
Cite as: Meyer, Christoph H. F.: Alte Drucke mit der Signatur „Kan“: Vormodernes Wissen über kirchliche Normativität im Spiegel der Institutsbibliothek, legalhistoryinsights.com, 01.08.2025, https://doi.org/10.17176/20250805-093020-0